Fabian Kettner

H.G. Adler: Eine Reise; Die unsichtbare Wand; text + kritik, Heft 163

Hans Günther Adler war, so nannte man es mal, ein Universalgelehrter: er war Historiker, Soziologe, Philosoph und Dichter. 1910 in Prag geboren, überlebte er das KZ Theresienstadt und Auschwitz. Seine Bücher sind größtenteils nicht mehr erhältlich. Heft 163 von text + kritik stellt dankenswerter die verstreuten Informationen über Adlers Werk, die vergleichsweise spärliche Literatur zu ihm sowie seine Vita zusammen. Die Autoren des Bandes erinnern persönlich an Adler und beleuchten verschiedene Aspekte seines Werkes und dessen Wirkung. Sie stellen heraus, dass man sein Werk zwar in die Bereiche Poesie vs. Wissenschaft einteilen kann, dass aber sowohl ein Buch wie Theresienstadt. Antlitz einer Zwangsgemeinschaft (1955, für 2004 vom Wallstein-Verlag als Neuauflage angekündigt) mehr als reine Historiographie ist, wie er auch Poesie nicht als Genre der Narrenfreiheit und Beliebigkeit nutzte. Für Adler waren alle seine Arbeiten Versuche, das zu verstehen, was ihm widerfuhr. Er wolle dies, lässt er Artur, den Protagonisten in Die unsichtbare Wand sagen, „weil ich gar nicht anders kann. Bevor nicht alles durchgedacht und aufgewiesen ist, werde ich nicht rasten, geschweige denn Ruhe finden“ (235). Denn „nur durch die Sprache wird gefährlichstes Dasein verscheucht“, nur so könne er „das Übermächtige bannen“ (367).

Wird in Eine Reise die Deportation und die schrittweise Entmenschlichung der Deportierten beschrieben, so geht es in Die unsichtbare Wand um das Leben – nennen wir es erstmal so – nach der Verfolgung. Artur Landau hat in der Shoah seine gesamte Familie verloren. Nach der Befreiung kehrt er in die Tschechoslowakei zurück. Hier lernt er Anna kennen, eine Nicht-Jüdin. Er arbeitet in einem Museum, welches die Besitzreste der Ermordeten ordnet. Weil er es in der Heimat, die ihm keine mehr ist, nicht aushält, wandert er nach England aus, wo er Johanna kennenlernt. Auch sie hat ihre Familie verloren und arbeitet bei einem Vermisstenservice. Mit ihr zeugt er zwei Kinder und schlägt sich elendig durchs Leben. Nachdem er sich lange erfolglos um Möglichkeiten für soziologische Veröffentlichungen bemüht und stattdessen immer nur sog. odd jobs angeboten bekommen hat, wird er schließlich in einer surrealen Jahrmarktsszenerie in die scientific community aufgenommen, die zu verachten er längst verlernt hat.
Laut Klappentext sei Die unsichtbare Wand „ein Roman über die Liebe und die Heimkehr ins Leben.“ Das klingt schön und versöhnlich - und ist natürlich falsch. Liebe, die zu seiner Frau, kommt vor und hilft Artur, aber der Roman handelt nicht von Liebe. Artur kehrt auch nicht ‚ins Leben’ wie in ein Heim zurück, das er vorher nur nicht gefunden habe. Ganz am Ende arrangiert er sich bitter und resigniert, gezwungenerweise, mit dem, was man „Leben“ nennen könnte. „Überdauert hatte ich, nun mußte ich hindauern“ (628).
Seine Versehrung wird Artur nicht wieder los. Andere sind einfach, „das Selbstverständliche ist ihnen verliehen und füllt sie aus“ (49), er hingegen ist von der Macht „abgeschafft“ (64). Der Überlebende, der nicht einfach nur getötet, sondern ausgelöscht werden, nicht gewesen sein sollte, „staunt [..] oft über sich, man tritt sich selbst gegenüber, neugierig, scheu, vorsichtig, richtet Fragen an sich, weil man es noch nicht recht glaubt, ob man derselbe Mensch ist, ob man überhaupt ist“ (574). Er sieht sich selbst als „Irrtum“, denn „weder ordentlicher noch ungesetzlicher Mord war mir verheißen worden“ (169). Die unsichtbare Wand ist seine Beschädigung, die zwischen ihm und anderen sowie der Welt überhaupt steht. Er ist schwach, unduldsam und unangenehm, aber hellsichtig. In der feuilletonistischen Aufbereitung der Judenvernichtung sieht er „poetische[.] Aasgeiermethoden“, voller „Blut und Tränen der Ermordeten, damit sich die Romanjournalisten und Filmregisseure mästen“ (231). Er sieht voraus, dass man „verschwenderisch Mittel aus aller Herren Länder“ zusammentragen wird, „um nach einem Preisausschreiben ein Riesendenkmal den armen unschuldigen Opfern zu errichten“ (238). Dabei ist die Erinnerung vergeblich, denn die Ermordeten sind „ganz und gar Abgeschaffte. Unerwünschte und schon darum nicht Vermißte. [...] Entlassene aus jedem Geschick [...], keine Menschen mehr, auch nicht tote Menschen, überhaupt nichts“ (103f.).
So fühlt auch er sich. „Ob ich lebe, das weiß ich nicht“ (567), und das Leben, das er hat, sieht er beständig bedroht. Wie in Niederlands Studie über das „Überlebenden-Syndrom“ beschrieben, [1] so fürchtet auch Artur die Macht, die ihm seine Subjektivität, seine Individualität raubte. Auf der Straße hat er Angst vor einem Polizisten, der ihm drohe, „das Recht des geduldeten Gastes zu bestreiten“ (20). Bei einer Fahrt in die Tschechoslowakei achtet er sorgfältig darauf, „Paß, Geldtasche, Fahrscheinheft, Devisenschein und was man sonst noch zum Beweis seiner Rechtmäßigkeit benötigt“ (21) dabeizuhaben. Was der Staat gab, kann er auch wieder nehmen, denn „der Staat beglaubigt der erschaffenen Menschen Gültigkeit. Wohl dem, wer ordentliche Dokumente hat, er ist lebendig und darf richtig leben.“ Die Einzelnen sind Material des Staates, in seinen „Schriften ist er offenbar, die eigene leibliche Erscheinung ist bloß ein Hilfsmittel, ein bedienter Bote, ein bestellter Träger der Papiere, dem erst sie einen ebenbildlichen Sinn verleihen“ (42). Der deutsche totale Staat aber machte sich zum Existenzial, der nicht bloß Rechtssubjektivtät verteilte oder vorenthielt, sondern als Volksgemeinschaft über Sein und Nicht-Sein des ihm unstellten „Daseins“ (Heidegger) entschied.
Dass es Deutsche waren, die Juden ermordeten, das kommt bei Adler nur andeutungsweise vor, dass es nicht der Staat oder die Moderne an sich war, welche Rolle der Antisemitismus spielte, was mit den Juden vernichtet werden sollte, leider gar nicht. Die „Soziologie des unterdrückten Menschen“, für deren Ausarbeitung Artur Unterstützung sucht, die aber überall auf Ablehnung stößt und zu der Adler Fragmente beitrug, bleibt ebenso unspezifisch. [2] In Der verwaltete Mensch (1974) macht Adler deutlich, dass er zwischen normaler staatlicher Rechtssubjektivität und Rationalität einerseits und einer Staatsbürokratie, die auf Vernichtung aus ist, sehr wohl unterscheidet. Aber weil Adler auch in seinem soziologischen Werk gerne die Geisteshaltung des „mechanischen Materialismus“ verantwortlich macht und den Nationalsozialismus als nur eine seiner Erscheinungsformen ansieht, [3] bleibt er für verschiedene Interpretationen vereinnahmbar.
„Eine Autobiographie der inneren Prozesse, ganz ohne die Schalheit billiger Faktizität – und daher wahr und wahrhaftig“ so freute sich Die Zeit über Die unsichtbare Wand. Wahr reicht nicht, es muss „wahrhaftig“ sein, das Wort, mit dem die Lüge in die Wahrheit getragen wird. „Faktizität“ ist schon verdächtig, da flach und oberflächlich, im Gegensatz zur ‚Tiefe’, in die die „inneren Prozesse“ (von denen der unbekannte Zeit-Rezensent vielleicht Aufschluss geben könnte, wie diese ihre eigene Biographie schreiben) weisen, dann sei sie aber auch noch „billig“ und dann auch noch „schal“. Adler zieht so etwas an: „eine Hingabe ans Nichts, damit man aufersteht im Sein [...]. Durch Nichts zum Sein. Das ist das Geheimnis, aus dem die Welt erschaffen ist“ (330) – solche und ähnliche Sätze kommen in Adlers Werk häufiger vor, und dies ist das Gefasel, auf das die „deutsche Ideologie“ (Adorno) anspringt. Der Sprung ins gänzlich Abstrakte, das sich als Sein, als das ganz Konkrete tarnt und missversteht, mag bei Adler noch als Ausweichen verständlich sein, [4] aber genau dieser Jargon über den Menschen & die Welt im allgemeinen macht Adler so behaglich konsumierbar. Dabei wäre Adler auch dagegen zu retten. In einer schönen Wendung gibt Artur Auskunft, dass er an seiner Frau gerade deren „unerschütterliche Treue zum Uneigentlichen“ (14) liebe. Und an einer anderen Stelle lacht er über einen Empfehlungstext zu einem soziologischen Buch, welcher das Vokabular von „tief“, „Dasein“, „existenziell“, „Vermassung“, „Wesensschau“, „Anliegen“ versammelt, das er ausdrücklich als „Jargon“ verhöhnt (664f.). Mitnichten „beschwört Adler“, wie Der Tagesspiegel meint, „die beklemmende Existenz von Menschen herauf, die aus der Welt gefallen sind.“ Denn sie sind nicht aus der Welt gefallen - als hätten sie nicht aufgepasst, wohin sie ihre Füße setzten und dabei den Rand der Welt übersehen. Sie sind ermordet worden, das möchte man nicht aussprechen; und auch grammatikalisch falsch zu sagen, sie seien „herausgefallen worden“, bliebe ein Euphemismus.

H.G. ADLER: Eine Reise. Mit einem Nachwort von Jeremy Adler. Berlin: Aufbau, 2002 (Verlag Paul Zsolnay 1999). Ca. 350 Seiten. € 08,50
Die unsichtbare Wand. Mit einem Nachwort von Jürgen Serke. 2003 (Zsolnay 1989). Ca. 780 Seiten. € 13,95
TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur. Heft 163: H.G. Adler. München: edition text + kritik, 2004. ca. 110 Seiten. € 14,00