Ingo Elbe
Staat der Kapitalisten oder Staat des Kapitals?
Rezeptionslinien von Engels’ Staatsbegriff im 20. Jahrhundert
Die sozialistische Arbeiterbewegung stand am Anfang des 20. Jahrhunderts vor der Frage, welche Haltung zum Staat einzunehmen sei, mit dem man sich in der Tagespolitik auseinanderzusetzen hatte und von dem man, sollte eine ‚revolutionäre’ Ausrichtung beibehalten werden, einen Begriff haben musste, um gesellschaftliche Alternativen überhaupt denken zu können. Die Texte des Namensgebers der einflussreichen ‚Marxschen Schule’ enthielten keine ausgearbeitete Staatstheorie, auch wenn eine solche in den Aufbauplänen zu Marx’ Kritik der politischen Ökonomie noch vorgesehen war. 1 Die staatstheoretischen Überlegungen von Friedrich Engels haben diese Lücke gefüllt und die Staatsauffassungen der sozialistischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt.
Während bei Engels noch höchst widersprüchliche Staatsbestimmungen zu finden sind, die zwischen den Formeln ‚Staat des Kapitals/ideeller Gesamtkapitalist’ und ‚Staat der Kapitalisten/reeller Gesamtkapitalist’ schwanken, hat die Rezeption bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein meist die letzteren aufgenommen und daraus entweder eine dem Selbstverständnis nach ‚orthodoxe’ staatskritische Theorie entwickelt oder diese Formeln zum Anlass genommen, einen alternativen und affirmativen Staatsbegriff zu entwickeln. Im Folgenden sollen zunächst mit Wladimir Iljitsch Lenin und Hans Kelsen paradigmatische Ausarbeitungen dieser an Engels anknüpfenden, spiegelbildlichen Konzeptionen dargestellt werden. Die Auseinandersetzung mit diesen Modellen sozialistischen Staatsdenkens ist dabei nicht nur von antiquarischem Interesse, sie reflektiert Modi noch heute gängiger Staatsauffassungen, die als Theoriefragmente und Alltagsideologien durch linke Pamphlete und Praktiken geistern. In einem dritten Schritt soll schließlich die Grundintention einer Rezeptionslinie skizziert werden, die – mit Ausnahme des Vorläufers Eugen Paschukanis – erst in den 1970er Jahren entsteht und die Bestimmung des Staates als ‚Staat des Kapitals’ und ‚ideeller Gesamtkapitalist’ aufnimmt, wobei hier der direkte Weg einer Ausarbeitung der rechts- und staatstheoretischen Implikationen der Marxschen Ökonomiekritik gewählt wird.
Zum Text:
(erschienen in: S. Salzborn (Hg.): ‘… ins Museum der Altertümer‘. Staatstheorie und Staatskritik bei Friedrich Engels, Nomos, Baden-Baden 2012)