Fabian Kettner

Michael Wildt. Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes

Michael Wildt. Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg: Hamburger Edition, 2002. ca. 960 Seiten. € 40,-

Die Generation der 1902 und später Geborenen konnte am 1. Weltkrieg nicht mehr kämpfend teilnehmen, allenfalls noch die „Heimatfront“ unterstützen. Dadurch war sie von der Gemeinschaft der Frontkämpfer ausgeschlossen und belächelt und schuf sich eine eigene Identität, die einer jugendlichen Generation, die sich in Bünden oder in Zeitschriften wie der „Tat“ Ausdruck verschaffte, die alles Alte und Morsche einreißen und mit Wille, Streben und Kampf ein neues Reich schaffen würde. Ihre Protagonisten engagierten sich zunächst in Freikorps und separatistischen Kämpfen, später in nationalen und nationalsozialistischen Studentenvereinigungen, bildeten schließlich die Funktionärsriege des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA).

Diese Generation nennt Michael Wildt die „Generation des Unbedingten“; „unbedingt“ steht für konsequent, kompromisslos, entschieden, entschlossen. Im RSHA arbeiteten von 1939-45 ca. 3000 MitarbeiterInnen, davon 400 in führenden Positionen. Hervorstechend an ihnen war die „generationelle Homogenität“, die ihnen ein „spezifisches politisches Weltanschauungsprofil“ (23) gab. Sie profitierten von den Bildungschancen der Weimarer Republik: mehr als 75% hatten Abitur, mehr als zwei Drittel hatten studiert (kaum Abbrecher), etwa ein Drittel besaß einen Doktorgrad. Damit setzten sie sich von ihrer Herkunft aus dem unteren Mittelstand ab. Fast alle waren Geisteswissenschaftler, zu über zwei Dritteln Juristen, gefolgt von Germanisten, Philologen und Historikern. Auch wenn es gegen Ende der Weimarer Republik eine Akademikerschwemme gab, so kamen die späterer RSHAler, als sie ihre Karriere, zumeist beim Sicherheitsdienst (SD), begannen, nicht aus der Arbeitslosigkeit. Der NS bot ihnen zweierlei, „wonach sie in all den Jahren gesucht hatten: eine berufliche Karriere, die ihrer politischen Weltanschauung entsprach und ihnen darüber hinaus bereits in jungen Jahren Aufstiegschancen eröffnete, die ihnen ansonsten kaum möglich gewesen wären“ (166). Sie strebten nach ‚Höherem’, das meint aber nicht nur nach Sicherheit und Ansehen, sondern nach Führung über die Masse, in und mit der sie das in jüngeren Jahren schon proklamierte Dritte Reich gründen und die Richtigkeit ihrer Weltanschauung qua erfolgreicher Durchsetzung beweisen können.

Das RSHA wurde im September 1939 von Heinrich Himmler unter Reinhard Heydrich gegründet und richtete die bereits 1936 vollzogene Verschmelzung von Polizei und Parteiorganisation auf den 2. Weltkrieg aus. Es wurde der „theoretische wie praktische Kristallisationspunkt einer spezifisch nationalsozialistischen Polizei, die ihre Aufgabe politisch verstand, ausgerichtet auf rassische ‚Reinhaltung’ des Volkskörpers sowie die Abwehr oder Vernichtung der völkisch definierten Gegner ..., die Exekutive der rassistischen ‚Volksgemeinschaft’“ (282). Zu seinen acht Ämtern gehörte der SD Aus- und Inland, die Information über „weltanschauliche Gegner“, die Kripo und die Gestapo. Es war zuständig für Planung und Durchführung der umfangreichen Umsiedlungen resp. Vertreibungen der „Volkstumspolitik“ in den eroberten polnischen Gebieten, für die Ausschaltung der „jüdisch-bolschewistischen Intelligenz“, d.h. für die Massenerschießungen aller Juden durch die Einsatzgruppen in Polen und der Sowjetunion und für die „Endlösung der Judenfrage“, von Deportationen bis hin zur Massenvernichtung.

Dass dem so war, ist nichts Neues; auch wenn Wildts ausführliche Studie das bekannte Material angenehm ordnet und strukturiert. Interessant wird seine Studie v.a. durch die Einordnung des RSHA. Ausdrücklich hebt er hervor, dass es, entgegen bisheriger Interpretation, keine bloße organisatorische Klammer, kein Verwaltungsbüro war, sondern eine „Institution neuen Typs“ (410). Wildt knüpft hier an Gedanken von Ernst Fraenkels „Der Doppelstaat“, Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ und Hans Günther Adlers „Der verwaltete Mensch“ an. Der NS bedeutete keine Usurpation, sondern eine Transformation des Staates, mit der der „Volkswille“ über das Gesetz, das Politische über den Staat gestellt wurde. Volk & Rasse statt Staat & Gesetz waren Ordnungsprinzip, das „gesunde Volksempfinden“ die Handlungsgrundlage (214). Der neue Polizeiapparat wurde aus einem normenstaatlichen Geflecht entbunden und orientierte sich fortan am „Führerwillen“ – was weder Bindungslosigkeit noch Anordnungsbindung bedeutete, sondern „daß auch ohne konkreten Befehl in einer gegebenen Situation die richtige Entscheidung gefällt werden konnte“ (229). Dafür brauchte es als Mitarbeiter den „politischen Aktivisten“, keine „Verwaltungsjuristen“ (214), die auch „ihrem Selbstverständnis nach keine Schreibtischtäter“ waren (139), ein „soldatisches Beamtentum“ (261), Heydrichs „kämpfende Verwaltung“ (203), gelöst von bürokratischen und juristischen Bindungen, eine praxisnahe „mobile und flexible Organisation“ (282). „Sie verbanden ihre Arbeit in der Zentrale in Berlin mit der Praxis vor Ort. Sie vollzogen den Terror nicht nur per Erlaß, sondern praktizierten ihn selbst“ (358).

Wie sein Lehrer Ulrich Herbert in dessen Studie „Best“, so zeichnet auch Wildt den dt. Geist eines Jahrhunderts nach und verfolgt die Lebensläufe der RSHAler nach 1945. In den Nürnberger Prozessen wurden SD und Gestapo als verbrecherische Organisation definiert, aber in den Einsatzgruppen-Prozessen waren nur 10 der 23 Angeklagten RSHAler. Bald nach Kriegsende äußerten die Deutschen Unmut über die Kriegsverbrecherprozesse und 1951 wurden Todesstrafen in Zeitstrafen abgeändert, wurden Zeitstrafen drastisch reduziert. Vielen wurde über §151 GG eine Karriere in alten Stellen ermöglicht; wer beim SD gewesen war, d.h. keine Verwaltungsjuristen- oder Beamtenlaufbahn hinter sich hatte und als Ex-Gestapo wieder bei der Kripo arbeiten konnte, der gelangte auch im Verlags-, Bank- und Versicherungswesen leicht zu bürgerlichem Wohlstand und Ansehen. Die Mitte der 60er angestrengten RSHA-Verfahren verliefen im Sande.