Fabian Kettner

Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall. „Opa war kein Nazi.“ Nationalsozialismus im Familiengedächtnis/ Robert Montau, Christine Plaß, Harald Welzer. „Was wir für böse Menschen sind!“ Der Nationalsozialismus im Gespräch zwischen den Generationen

The Famliy is Saw

Seit mehreren Jahren beschäftigen sich Welzer et al. mit der sozialen Konstitution von Erfahrung, mit ihrer Organisation und Weitergabe von Generation zu Generation. Es ging dabei nicht darum, festzustellen, wie alte Menschen über den NS denken, sondern um die Analyse des intersubjektiven Prozesses im Gespräch: wie Zeitzeugen Geschichte weitergeben und wie die Nachgeborenen dies aufnehmen und ihrerseits weitergeben. Welzer et al. untersuchten zunächst die Formen der Tradierung im intergenerationellen Gespräch, zunächst zwischen einander unbekannten Zeitzeugen und Interviewern (»Was sind wir für schlechte Menschen«), später innerhalb dreier Generationen einer Familie (»Opa war kein Nazi«).
Die Gesprächssituation ist ein „intersubjektive[s] Produktionsverhältnis“, bei dem (a) sich die Erzähler rhetorischer und narrativer Mittel bedienen, wie auch die Zuhörenden ihnen mit Erwartungshaltungen entgegenkommen und (b) beider „Geschichtsbewusstsein freiwillig und unfreiwillig zum Ausdruck“ kommt. Geschichtsbewusstsein unterscheidet sich von Geschichtswissen. Während das „historische Wissen“ explizit und kognitiv vermittelt wird, ist das „implizite Gedächtnis“ zwar auch „handlungsleitend“, aber „unbewußt“. Es prägt die Art des Denkens und Sprechens über den NS und ist „von frühkindlichen Phasen ab sozialisationsrelevant“, „intentional äußerst schwer korrigierbar“ und „die am stärksten sozial präformierte Art von Erinnerung“. Die Formen des individuellen Erinnerns sind von „Erinnerungsmilieus“ abhängig, die sowohl den Inhalt wie die Art des Vermittelns bestimmen.
Das Sprechen über den NS geschieht in „Aushandlungsmedien“, in „wiederkehrende[n] Strukturelemente[n] des Verfertigens der Vergangenheit“, „Tradierungstypen“ genannt. Im Tradierungstyp „Opferschaft“ stellen die Erzählenden sich als Opfer der Nazis und/oder der Siegermächte dar. Ihm verwandt ist der der „Überwältigung“ durch große anonyme Geschehnisse ohne Subjekt. In der „Rechtfertigung“ reagieren die Zeitzeugen auf Vorwürfe der Nachkommen; mit „Distanzierung“ stellen sie leicht eine Verbrüderung her, indem durch kabarettistisches Veralbern von Nazi-Größen die angeblich schon damals gegebene innere Gegnerschaft demonstriert werden soll. Immer noch gibt es „Faszination“, in der sich Zeitzeugen für einige Aspekte des Dritten Reichs begeistern und die Weimarer Republik und die BRD als negative Vergleiche nutzen.

In diesen Tradierungstypen steckt schon, was das wichtigste Ergebnis der Studien: dass über Generationen hinweg der NS durch das Reden über ihn zur leeren historischen Hülle, zur Veranstaltung der Anderen, die man „die Nazis“ nennt, dass er täterlos wird; dass Zeitzeugen und Nachfahren sich entgegenkommen; dass erstere nicht letzteren etwas verschweigen, sondern die Nachfahren empathische Leidensgeschichten hören wollen und Beteiligung ihrer Vorfahren (die öfter zugegeben wird, als allgemein angenommen) schlicht überhören. Die Generationen gehen ein „intergenerationelle[s] Bündnis“ ein, zeugen die Volksgemeinschaft in kommunikativer Form fort.
Das immer noch wichtigste Erinnerungsmilieu sei offenkundig die Familie. Hier werden „emotional basierte Auffassungen“ gelegt, die über eine „selbstverständliche Gewissheit“ die Wahrnehmung des NS und der verwandten Zeitzeugen fomen. Dabei werden nicht Familiensagas getreu weitererzählt, sondern jeder Angehörige entwickelt eine eigene Version, die denen der anderen zwar widersprechen mögen, aber in der Form des Familiengedächtnisses als „synthetisierende[r] Funktionseinheit“ zusammenfinden. Wichtig ist die „Aktualisierung“ dieses Familiengedächtnisses im Gespräch, die Vergegenwärtigung und Herstellung von Gemeinschaft über Erinnerung an Erinnertes (nicht an wirklich Geschehenes!), nicht die getreue Nacherzählung.
Jene wäre auch kaum möglich, da die Erzählungen „offen“ sind, unklar, diffus, oft sinnlos und widersprüchlich. In dieser Form, das haben die Erzähler herausgefunden, kommen sie am besten an, denn so bieten sie den Zuhörenden am besten Anschluss für eigene Bedürfnisse und Deutungen. Die Nachfahren spüren die „Leerstellen“ eifrig auf und füllen sie bereitwillig. In den Familiengesprächen stellte sich heraus, dass dem Tradierungstyp „Überwältigung“ kaum noch Bedeutung zukommt; nun wird den Vorfahren „Heldentum“ unterstellt. Jedes nur mögliche Deutungsangebot wird augegriffen und von zweiter zu dritter Generation sukzessive in einer „akkumulativen Heroisierung“ zu Widerstandshandlungen ausgebaut. Da wird aus der Juden denunzierenden Großmutter eine mutige Judenversteckerin, aus dem führenden SA-Mann ein innerer Emmigrant und aus dem Gestapo-Angehörigen, der an der Juden-‚Aussiedlung’ mitarbeitete, ein Fluchthelfer.
Die Geschichten, die hierbei verfertigt werden, folgen neben den Tradierungstypen auch anderen „Drehbüchern“. Mehr und mehr wird die „Wechselrahmung“ angewandt, d.h. „Merkmale, die Bildern und Geschichten zum Holocaust entstammen“, werden in die Erzählungen eingebaut, um das Leiden der Vorfahren zu illustrieren. Dies ist sicherlich auch auf das über die Massenmedien extensivere wie intensivere Einsickern medialer Vorgaben in das Bewusstsein und Unbewusstsein zurückzuführen, die regelrechte „retroaktive[.] Skript[s]“ liefern, aber (und über das, was deutsch ist, schweigen Welzer et al. sich aus) v.a. sollte man darin die Enteignung der Juden von ihrer Vergangenheit sehen, die Entlastung von den eigenen Verbrechen, eine Fortsetzung der Erzählung, die Deutschen seien die eigentlichen und immer noch Opfer des NS und die eigentlichen Juden gewesen.

Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall. „Opa war kein Nazi.“ Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Unter Mitarbeit von Olaf Jensen und Thorsten Koch. Frankfurt/M: Fischer, 2002. ca. 240 Seiten. € 10,90
Robert Montau, Christine Plaß, Harald Welzer. „Was wir für böse Menschen sind!“ Der Nationalsozialismus im Gespräch zwischen den Generationen. Tübingen: Edition Diskord, 1997. ca. 220 Seiten.