Fabian Kettner

George L. Mosse: Aus großem Hause. Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Historikers/ Friedrich Rothe: Karl Kraus. Die Biographie

Außenseiter, nacherzählt

Biographien dienen Tratsch & Klatsch unter dem Deckmantel der Wissenschaft und besonders der der Literatur. Wer den ‚persönlichen Zugang’ zum Werk braucht, der wird hier bedient. Dieser Zugang führt allerdings am Werk vorbei. Meist findet sich hier nicht, was im Werk fehlte, bestenfalls bekommt man nette, unterhaltsame Lektüre.
Wozu man schreiben können muss. Friedrich Rothe aber lehrt an der FU Berlin. Seine Kraus-Biographie ist eine Versammlung von unzusammenhängenden Einzelstudien, aus denen man sich biographische Daten wohl zusammensuchen kann. Über die mangelnde Genre-Orthodoxie kann man sich freuen, aber wieso nennt man es dann „Biographie“? Wozu braucht es auch eine mit einer Intention, mit der Rothes vorgestellt wird: das Bild vom unleidlichen Menschen Kraus geradezurücken? Wer einer persönlichen Verteidigung eines libidinös bestzten Identifikationsobjekts (wozu Kraus ja immer wieder einlädt) bedarf, der mag zu Rothes Buch greifen.
Dabei ist es weder eine Apologie, der man sich genüsslich-regressiv hingeben könnte, noch sind die inhaltlichen Ausführungen ergiebig. Das verzwickte Thema Antisemitismus bei Kraus bspw., wozu Gershom Sholem meinte, man könne hierbei nur Irrtümer begehen, wird weder durch Krausens Vita, noch durch Rothes spärliche Erläuterungen erhellt. Dessen Unverständnis bleibt nicht auf den Antisemitismus beschränkt, sondern betrifft auch Kraus’ Denken, wodurch er die üblichen Stereotypen reproduziert. Seit 1911 sei Kraus auf „Traditionssuche“ gegangen (339), weswegen sich bei ihm ein „ein unverhüllt konservativ-traditionelles Klima“ ausgebreitet habe (348). Wer etwas über die Dialektik von Kraus’ Kritik an Fortschritt und Moderne erfahren möchte, der greife besser zu Irina Djassemys Studie.
Weil die Theorie seine Schwäche ist, knüpft Rothe auch noch dünne Fäden zwischen Kraus und Wittgenstein sowie der Kritischen Theorie. Bspw. sei für Wittgenstein wie für Kraus Sprache ein Maßstab gewesen, „der zuverlässig anspruchsvolles Geschwätz und unabweisbare Wahrheit zu unterscheiden half“ (368). – Wenn man davon absieht, dass Wittgenstein keine „unabweisbare Wahrheit“ kennen wollte, dass das, worüber Kraus schreibt, mehr ist als „das, was der Fall ist“ und für Wittgenstein zu dem zählen müsste, wovon man mangelnder Klarheit wegen „schweigen“ solle.
Daran hätte auch Rothe sich manches Mal halten mögen, denn nicht nur weiß er ein Stück von Carl Sternheim als „ein Stück voll abgründiger Psychologie“ (247) zu beurteilen, sondern mitunter schreibt er wie Kraus’ Gegner Harden, der exzessiv seine klassische Bildung in maändernden Vergleichen an kurzer Leine vorführte, wie man es heute nur noch in der Zeit findet. „Der Kasus war nicht ganz eindeutig.“ Ein Fall tut es hier nicht. „Der oberste Repräsentant der kaiserlichen Majestät in Berlin hatte sich eher wie ein Tolpatsch benommen als wie ein blutrünstiger Scarpia“ (246).

George L. Mosse schrieb selber, bevor er 1999 starb. Er war Sohn des großen Berliner Verlegers. Wie Kraus war auch Mosse Jude, aber während dieser 1936 in Wien starb, ging jener 1933, nachdem der Vater das Verlagsimperium zwangsarisieren ließ, mit seiner Familie ins Exil. In England ging er weiter aufs Internat, studierte und wurde Antifaschist und gemäßigter Sozialist, später in den USA machte er Karriere als Historiker.
Anders als Kraus, der die Katastrophe traumatisch näherkommen spürte, spricht aus Mosses Memoiren eine gewisse Unbekümmertheit. War er zu Schulzeiten zwar auf Salem, wo er sein Judesein besser nicht zugab, so war er doch relativ abgeschieden, und die finanzielle Sicherheit erleichterte zweifellos den Gang ins Exil. Das Ende des Krieges kommt bei ihm gar nicht vor. Auch wenn er selber von einer „Kette der glücklichen Fügungen, mit denen ich gesegnet war“, spricht (234), so hat die Vertreibung doch Spuren hinterlassen: „Angst vor Identitätslosigkeit“ (151) und d.h. Staaten-/Passlosigkeit und die „ständige Erwartung wenn nicht einer Katastrophe, dann doch irgendeines bevorstehenden Unglücks ... und mir konkret vorzustellen, wie ich mich im Falle des Falles verhalten würde“ (169).
Länger und sorgfältiger als sein Judesein hielt er seine Homosexualität geheim. Er fühlte sich „gleichsam als Inhaber zweier schmutziger Geheimnisse“ (118). Dass er sich bevorzugt mit den „Spannungen zwischen Insidern und Außenseitern innerhalb einer Gesellschaft“ (304) beschäftigte, sieht er darin begründet. Sein Lebenslauf ist Grund für seine Betätigung als Historiker, was für ihn stets „mehr als bloß ein Job“ (274) war. Die Beschäftigung mit Geschichte „war zugleich ein Versuch, meine eigene Vergangenheit zu verstehen“ (305).
Ab Mitte der 1950er arbeitete er zum NS, „dem ich bis dahin ausgewichen war“ (242). Mosse, auf den Kraus’ Spruch über den Historiker, dieser sei „einer, der so schlecht schreibt, daß er selbst an einem Tagesblatt nicht mitarbeiten darf“, nicht zutrifft, verdanken wir einige der besten Studien zur Mentalitätsgeschichte „die sich mit Wahrnehmungen, Mythen, Symbolen und deren Wirkung auf die Bevölkerung befasste“ (232), von Nationalismus und Faschismus, auch wenn er die Spezifika des NS und des Antisemitismus nie herausarbeitete (so bspw. in Die Geschichte des Rassismus in Europa). In Die Nationalisierung der Massen beschreibt er die „Sakralisierung von Politik“, die im NS als „politischer Religion“ gipfelte (307). Die völkische Revolution ist nach wie vor das Standardwerk zur völkischen Bewegung. Mit Nationalismus und Sexualität habe er sein „Bekenntnis zum Schwulsein“ abgelegt (311). Mosse wusste, dass er den Objekten seiner Arbeit komplizenhaft nahestand. Wie er „aus eigener Erfahrung etwas vom verführerischen Zauber“ des Nationalismus wusste (117), so spürte er später in Israel erotische Faszination für den Typ des stolzen, starken Juden als Soldat. Die Reflexion auf das, was in ihm selber auf das anspricht, was er entmystifizieren wollte, ermöglichte ihm eine distanzierte Einfühlung, wie bspw. in Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit.

GEORGE L. MOSSE: Aus großem Hause. Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Historikers. Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Siber. Mit einem Nachwort von Elisabeth Kraus. München: Ullstein – Heyne – List, 2003. Ca. 380 Seiten. € 24,00
FRIEDRICH ROTHE: Karl Kraus. Die Biographie. Mit 49 Abbildungen. München – Zürich: Piper, 2003. Ca. 420 Seiten. € 24,90