Ingo Elbe

Christoph Henning, Philosophie nach Marx. 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik

Der Kulturwissenschaftler Christoph Henning hat mit seinem Buch einen theoretischen Rundumschlag
vorgelegt, dessen Waffe das Breitschwert, nicht aber das Skalpell ist. Henning tritt an, in Form einer
„Destruktion des Überlieferungsgeschehens“ den Rezeptionsschutt wegzuarbeiten, der sich im
Laufe von mehr als einem Jahrhundert in der marxistischen wie antimarxistischen Theoriegeschichte
angesammelt und unser Verständnis von ‚der’ Marxschen Theorie entscheidend geprägt hat.

Den leitenden Gesichtspunkt, unter dem ein enormes Textmaterial ökonomischen, soziologischen, philosophischen und theologischen Denkens bearbeitet wird, liefert die These, die gesamte nachmarxsche Theoriegeschichte sei als Prozess des „Verlust[es] des Gegenstands ‚Gesellschaft’“ (29) zu begreifen. Was bei Marx noch originäres Objekt kritischer Theoriebildung gewesen sei, zerfalle in den verschiedenen Disziplinen ‚bürgerlichen’, aber auch bereits in der ‚orthodoxen’ Richtung marxistischen Denkens in die Dichotomien von Subjekt vs. Objekt, Technik vs. Ethik, Arbeit vs. Interaktion, Mensch-Mensch vs. Mensch-Ding-Relationen usf. In den einzelnen Kapiteln, die eine kurze Aufarbeitung der Marxrezeption in den jeweiligen Fachgebieten enthalten und auch unabhängig voneinander lesbar sind, finden sich zugleich ‚systematische Kernpunkte’, die einen Zugang zum, wie es naiv-hermeneutisch heißt, „von Marx gemeinten Sinn“ (23) seiner Texte liefern sollen. Dessen Kritik der politischen Ökonomie wird als Ansatz begriffen, der empirische Erscheinungen der kapitalistischen Moderne durch theoretische Mittelglieder hindurch mit nichtempirischen Modellen zu erklären beansprucht (335, 564). Weder dürften die Modelle empiristisch verkürzt als unmittelbare Beschreibungen empirischer Prozesse verstanden werden (so geschehen im traditionellen Marxismus (37)), noch sei die nichtempirische Ebene ungestraft von ihrem Zusammenhang mit der erfahrbaren Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft zu trennen (wie es für die mannigfaltigen ‚Verphilosophierungsversuche’ bis hin zum Hegelmarxismus (569) diagnostiziert wird). Die Entfernung von der Wirklichkeit wird vor allem der normativen Sozialphilosophie der Gegenwart von Rawls und Habermas bis hin zur Wirtschaftsethik bescheinigt, der mit einem „therapeutischen Realismus“ (547) begegnet werden soll.
Dabei ist Henning zwar zuzustimmen, wenn er den normativistischen Modellkonstruktionen der Gegenwartsphilosophie wie den Prämissen der neoklassischen Ökonomie vorwirft, bereits mit der schnöden Alltagserfahrung in Konflikt zu geraten und zentrale empirische Probleme der globalisierten Menschheit schlicht zu ignorieren: „Wir hören von Elend und Krieg, spüren natürliche Triebe und müssen unsere Rechnungen bezahlen“ (546). Doch dieser Ansatz gerät nicht selten zu einer unbegründeten Substantialisierung des common sense und unserer „Intuitionen“, resp. der ‚harten Wirklichkeit’ als Kriterium der Bewertung von Theorien und „Wegzeichen“ (547) zu einer sachhaltigen Analyse der Gegenwart. Von hierher speist sich wohl auch der grobschlächtige und hemdsärmelige Argumentationsstil des Autors, wenn es um die Bewertung der Überlegungen der Kritischen Theorie, die schlicht unter „Religion“ abgekanzelt wird, oder des bundesdeutschen Marxismus der 1970er Jahre geht, „der aus den Marx’schen Texten nicht mehr zur Welt kam“ (569). In der Charakterisierung des ‚Neomarxismus’ wimmelt es zudem von sachlichen Fehlern, z.B. in der Bewertung der monetären Werttheorie, die Henning als Position (miss-)versteht, die einen logischen Primat des Geldes vor dem Wertbegriff vertrete und es derart als nicht weiter erklärbare Prämisse behandle (171). Hier wird auch die „Wertformanalyse“ von einem Teil des Marxschen ‚Kapital’ kurzerhand zu „einem späten Ausläufer adornitischer Sozialphilosophie“ (170) und wird jemand wie Ernest Mandel zu einem Theoretiker (v)erklärt, der die Zentralität des Geldes für die Marxsche Werttheorie erkannt habe (172). Jeder, der sich ernsthaft mit der Rezeptionsgeschichte der Marxschen Geldtheorie befasst hat, kann über solche Thesen nur den Kopf schütteln. Ist doch Mandel derjenige, der in seiner ‚Marxistischen Wirtschaftstheorie’ mit dem größten Aufwand versucht, die Engelsschen Mythen einer einfachen, geldlosen Warenproduktion mittels vermeintlicher empirischer ‚Beweise’ zu retten. Bei näherer Betrachtung findet man eine ganze Reihe derart befremdlicher Thesen, vornehmlich zur neuen Marx-Lektüre in der Bundesrepublik. Geradezu verächtlich ist da von „Deduktionsmarxismus“ (332) die Rede, werden die unterschiedlichsten Theoretiker unter das Label ‚Hegelmarxismus’ subsumiert (selbst solche, die, wie Klaus Holz, sich nichts geringeres vornehmen, als Dialektik und Identitätsphilosophie grundlegend zu verabschieden!) (563) oder nimmt es Henning nicht so genau mit den Aussagen seiner Lieblingsgegner, namentlich dem Marxologen Hans-Georg Backhaus (171 FN 115). Hennings spärliche Bemerkungen zur Methode der Marxschen Ökonomiekritik fußen dabei weitgehend auf den Ausführungen des analytischen Philosophen Ulrich Steinvorth (u.a. 335, 563). Mit dessen unzweifelhaft interessantem und elaboriertem Versuch einer einheitswissenschaftlichen Konzeption Marxscher Dialektik werden aber auch dessen Schwachpunkte schlicht reproduziert. Marx’ Geldtheorie erscheint so als eine von pragmatischen ‚Regelzusammenhängen’, was ihre Differenz zu klassischen Ansätzen nicht mehr erkennbar werden lässt (175). Das erste Kapitel des ‚Kapital’ könne „überschlagen“ werden, „ohne dem Buch einen Abbruch zu tun“ (146) und die Darstellungsweise sei lediglich „didaktisch sinnvoll[e]“ Ordnung chaotischen Materials (145). Wie dann, ohne einen Begriff von Wert und Wertform, noch Geld und Kapital zu begreifen sind, bleibt Hennings Geheimnis. Fragen, die bei einer Rezeption Steinvorths auftauchen, z.B. der, wie ‚unwirkliche’ Widersprüche, für die er diejenigen von Gebrauchswert und Wert, Ware und Geld hält, in einer Krise plötzlich zu wirklichen werden können, weicht Henning schlicht aus. Sein ‚Zurück zu Marx’ (13), so treffend es viele tatsächliche Fehlinterpretationen aufdeckt (obwohl ihm hierin keinesfalls Originalität bescheinigt werden kann), entpuppt sich so nicht selten als eine simulierte Orthodoxie, die mit einer Oberflächlichkeit und Selbstverständlichkeit methodologische Fragen übergeht, die einem den Atem verschlägt.
Ein weiteres Ärgernis hängt mit der Stärke des Buches zusammen: Dessen ungeheurer Materialreichtum geht bisweilen in einen wahrhaften Zitier- und Fußnotenwahn über (bis zu 30 Buchtitel zu einem Stichwort sind keine Seltenheit; das Literaturverzeichnis umfasst 88 (!) eng bedruckte Seiten), der etliche Werke meist ohne Seitenangaben als Belegstellen anführt, der Bücher angibt, die noch gar nicht veröffentlicht sind (z.B. Krätke 2002) oder es auch sonst mit deren Erscheinungsjahr (z.B. Dieter Wolf 1980 (tatsächlich 1985) bzw. 2003 (tatsächlich 2002)) oder den Namen von Autoren (Lucio Colletti wird zu Coletti (41, 329, 585), Gert Schäfer zu Gerd Schäfer (640) usw.) nicht so genau nimmt.
Dennoch kann dieses Buch sowohl für solvente Einsteiger in die Beschäftigung mit ‚dem’ Marxismus als auch für solche, die sich mit den Geisteswissenschaften der Gegenwart herumschlagen wollen, von Nutzen sein. Bei einem Preis von fast 40 Euro und der Konzentration auf Rezeptionsgeschichte hätte aber ein Personenverzeichnis nicht schaden können...

(erschienen in: Utopie Kreativ Nr. 193)