Christoph Hesse
André Bazin: Was ist Film?
Ein wunderlicher Idealist
Kino, sagen Wissenschaftler, ist eine bestimmte Kulturtechnik. Manche gehen sogar so weit, die Erfindung der Filmapparatur mit der des Revolvers in Verbindung zu bringen. Anderer Auffassung war André Bazin, der 1946 erklärte: „Das Kino ist ein idealistisches Phänomen. Die Idee, die die Menschen sich davon machten, existierte fix und fertig in ihrem Gehirn, wie im platonischen Himmel, und was uns überrascht, ist weit eher der hartnäckige Widerstand der Materie gegen die Idee, als daß die Technik der Phantasie des Forschers auf die Sprünge half.“
Diese Sätze waren damals an den marxistischen Filmhistoriker Georges Sadoul gerichtet, der in seiner „Histoire générale du cinéma“ die Entstehung der Kinematographie vor allem aus ökonomischen und technischen Bedingungen entwickelt hatte. Bazin hielt sich lieber an einen Ausspruch des jungen Marx, demzufolge „die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“
Kein Wunder, daß er damit in den späten sechziger Jahren in Ungnade fiel. Die „Cahiers du cinéma“, die er 1951 mitgegründet hatte, waren inzwischen damit beschäftigt, seine Hinterlassenschaften als ideologisch abzuschreiben. Wer über Film theoretisch mitsprechen wollte, mußte sich nun vor allem mit Althusser und Lacan auskennen. Bazin tauchte fortan allenfalls als Repräsentant vergangenen Ruhmes auf, vor dem man schnell den Hut zog, um sich noch schneller von ihm zu distanzieren.
Ohne Zweifel aber nimmt André Bazin, der selbst nur einen unfertigen Dokumentarfilm über romanische Kirchen hinterließ, in der Filmgeschichte einen vornehmeren Platz ein als die meisten Regisseure. Einige der besten, wie François Truffaut und Jean-Luc Godard, haben bei Bazin überhaupt erst die Sprache des Films verstehen gelernt. Mit seinen Schriften zu Chaplin, Orson Welles, Jean Renoir und Roberto Rossellini hat Bazin die moderne Filmkritik, die in diesem Fall zugleich als eine elaborierte Ästhetik des Films gelesen werden kann, erst erfunden – ein Kunsthandwerk, das, wie Truffaut später bemerkte, nach Bazins frühem Tod im Jahr 1958 schon bald wieder ausstarb und zum Journalistenberuf verkam.
Bazin entdeckte das amerikanische Kino für europäische Intellektuelle. Die großen Regisseure Hollywoods wurden durch ihn zu Vorbildern der „politique des auteurs“, die den Metteur-en-scène, der im arbeitsteiligen amerikanischen Studiosystem gewöhnlich nur als Inszenierer vorgesehen war, zum alleinverantwortlichen Autor seines Werkes erklärte. Von dieser Politik nahm allerdings Bazin schnell wieder Abstand. Denn erstens konnte auch ein drittklassiger „Autor“ einen ausgezeichneten Film drehen, wie er anhand einiger sogenannter B-Western bewies. Und zweitens konnte ein Film selbst unter günstigsten Produktionsbedingungen, wie sie zum Beispiel Orson Welles mit „Citizen Kane“ vorfand, niemals das Werk eines einzelnen Künstlers sein. Bazin wußte sehr genau, welche entscheidende Rolle Kameramann Gregg Toland bei der Gestaltung der Filmsprache zukam, die er im Unterschied zur manipulativen Kraft der Montage als eine Art Demokratisierung des Bildraums beschrieb: Mit Hilfe der Schärfentiefe gelang es, an Stelle einer üblicherweise in Einstellungen zerstückelten Szene ein „gleichmäßig lesbares Bild“ zu setzen, „das den Zuschauer zu einer eigenen Auswahl zwingt.“
Bazin war auch einer der ersten Theoretiker, die mit dem Tonfilm etwas anzufangen wußte. Von einem Verfall der Filmkunst, den andere mit der Einführung des Tons eingeleitet sahen, war bei ihm keine Rede. Im Hollywoodkino der dreißiger und vierziger Jahre, im poetischen Realismus der französischen Schule und im italienischen Neorealismus sah er im Gegenteil einen enormen Fortschritt der Filmsprache. Erst der Ton habe der „expressionistischen Irrlehre“ ein Ende bereitet, die den Film für eine Art phantastische Schattenmalerei hielt. Überwunden worden sei damit aber auch die Montagekonzeption von Eisenstein, die dem einzelnen Bild einen Sinn unterschob, den das Bild selbst nicht hatte. Bazin glaubte nicht an die Zauberkraft der Montage, sondern an die der Wirklichkeit. Um ihr Ausdruck zu verleihen, bedurfte es jedoch desto raffinierterer filmkünstlerischer Mittel, wie er an Welles’ „Citizen Kane“ und Rossellinis „Paisà“ unermüdlich demonstrierte. Sogar Eisenstein verdanke seine überwältigende Wirkung nicht allein den assoziativen Montagen, sondern ebenso einem Eindruck von Wirklichkeit, den Schauplätze und Darsteller vermitteln.
Die Frage, ob sein Realismus wirklich etwas mit der gesellschaftlichen Realität oder bloß mit ästhetischen Vorlieben zu tun habe, hätte Bazin wohl als unsinnig zurückgewiesen. Auch spielte es keine Rolle, ob Rossellini für den Katholizismus oder für den Kommunismus Partei ergriff, solange nur ein neorealistischer Film dabei herauskam. Wichtig war für Bazin, daß mit den Bausteinen der Wirklichkeit behutsam umgegangen wurde: sie nicht wie Ziegel behandelt, die das fertige Haus bereits in sich tragen, sondern wie Felsbrocken in einem Fluß, auf die man eher zufällig seine Füße setzt, um ihn zu überqueren. Mit den gängigen Realismen und deren repressiven Vorstellungen von Totalität hat das nichts gemein. Man mag Bazins „Ontologie des photographischen Bildes“ aus guten Gründen ablehnen; seine Filmästhetik, die man nicht realistisch, sondern vielmehr utopisch nennen sollte, enthält eher das Gegenteil dessen, was man in Deutschland mit dem schäbigen Ausdruck Ontologie verbindet.
Natürlich ist Bazin in vieler Hinsicht „veraltet“. Seine Schriften gehören dem klassischen Zeitalter des Kinos an: als Filme noch nicht hauptsächlich im Fernsehen liefen, als Kritiker noch ohne Pressevorführungen und Pressemappen auskamen und der akademische Betrieb von einer Wissenschaft vom Film noch nichts wissen wollte. Ihre begrenzten Voraussetzungen haben der Filmtheorie aber offensichtlich nicht geschadet. Wie oft gelangen Bazin profundere Einsichten als denen, die nach ihm kamen und zwar viel von Semiologie und Psychologie verstanden, aber vielleicht doch nicht wußten, was ein Film ist?
Die bisher umfangreichste Sammlung von Essays und Kritiken André Bazins ist im Berliner Alexander Verlag erschienen. Bereits vorhandene Übersetzungen wurden gründlich redigiert, andere Texte erstmals ins Deutsche übertragen. Der Titel entspricht der vierteiligen französischen Ausgabe. Daß aus „Qu’est-ce que le cinéma“, mehr als vierzig Jahre später, die Frage „Was ist Film?“ geworden ist, hat auch damit zu tun, daß sich die Zeiten geändert haben. Aussterben wird das Kino sicher nicht, sei es aus ökonomischen Gründen oder weil es sich dabei um eine platonische Idee handelt. Tatsache aber ist, daß Filme, die man gesehen haben sollte, will man das Kino verstehen, heute nur noch ausnahmsweise im Kino zu sehen sind.
André Bazin: Was ist Film? Hg. v. Robert Fischer. Aus dem Französischen von Robert Fischer und Anna Düpee. Berlin 2004: Alexander Verlag, 440 Seiten, € 29,90
zuerst erschienen in: Konkret 5/2005