Michael Heinrich

Der Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie

Im Kapital untersucht Marx die kapitalistische Produktionsweise, umstritten ist aber in welcher Weise der Kapitalismus hier zum Gegenstand wird. Stellt Marx die Grundzüge einer Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus dar (etwa von vorkapitalistischen Ware-Geld Verhältnissen über die Manufaktur bis zur modernen Fabrik), analysiert er eine bestimmte Phase des Kapitalismus (etwa den Konkurrenzkapitalismus des 19. Jahrhunderts) oder liefert er weder das eine noch das andere? Und wie verhält sich die Marxsche Auffassung des Kapitalismus zur bürgerlichen Wirtschaftstheorie, präsentiert Marx einfach eine weitere Theorie über die Funktionsweise des Kapitalismus? Die erste Frage zielt auf das Verhältnis von Theorie und Geschichte, die zweite auf das Verhältnis von Theorie und Kritik.

Theorie und Geschichte

Dass Marx im wesentlichen eine Geschichte des Kapitalismus lieferte, meinte schon Karl Kautsky in seiner einflußreichen Einführung in den ersten Band des Kapital. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es dann Allgemeingut unter den führenden Köpfen der Arbeiterbewegung, dass das Kapital durch eine Analyse des "Imperialismus" fortgesetzt werden müsse, was Rosa Luxemburg, Lenin, Bucharin und andere in unterschiedlicher Weise versuchten. Dieser "historistischen" Auffassung des Kapital steht jedoch das Marxsche Selbstverständnis entgegen. Im Vorwort zur 1. Auflage des ersten Kapital-Bandes (1867) heißt es:
"Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies der Grund warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient. [...] An und für sich handelt es sich nicht um den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen, welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringen. Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen." (MEW 23, S.12)

Es geht Marx also nicht um Geschichte, auch nicht um eine besondere historische Phase des Kapitalismus, sondern um dessen "theoretische" Analyse. Marx will die wesentlichen Bestimmungen des Kapitalismus festhalten, das was den Kapitalismus überhaupt zum Kapitalismus macht. Am Ende des dritten Kapital-Bandes heißt es dementsprechend, dass
"wir nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen haben" (MEW 25, S.839)

Dass der Kapitalismus selbst ein historisches Produkt ist, hat aber zu der Vorstellung geführt, dessen theoretische Analyse sei nichts anderes als eine abstrakte Darstellung des historischen Entwicklungsprozesses der zum Kapitalismus geführt habe. Vielfach wurde (in Anlehnung an Äußerungen von Engels) behauptet, die Marxsche Darstellung folge einer "logisch-historischen" Methode. [1] Demgegenüber hatte Marx bereits in der Einleitung von 1857 über den Aufbau seiner Darstellung festgehalten
"Es wäre also unthubar und falsch, die ökonomischen Categorien in der Folge auf einander folgen zu lassen, in der sie die historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft auf einander haben, und die gerade das umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemässe erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht." (MEGA II/1.1, S.42)

Damit sind zunächst einmal Ansprüche formuliert; ob Marx diese Ansprüche in seiner Darstellung tatsächlich erfüllt, müßte anhand seiner Argumentation diskutiert werden. Dies betrifft zum einen das Verhältnis von "theoretischer Entwicklung" und "historischer Illustration". Zum anderen betrifft dies das Problem, ob es Marx tatsächlich gelungen die wesentlichen (und nicht nur für eine bestimmte Phase typischen) Bestimmungen des Kapitalismus zu erfassen. So kann man z.B. fragen, ob die von Marx behauptete Existenz einer Geldware tatsächlich für jedes kapitalistische Geldsystem notwendig ist, oder ob ihre Existenz lediglich einer unzureichenden Entwicklung dieses Systems geschuldet ist.

In jedem Fall machen die angeführten Äußerungen den Abstraktionsgrad der Darstellung deutlich: wenn sich die Analyse auf der Ebene des "idealen Durchschnitts" der kapitalistischen Produktionsweise bewegt, dann liefert sie überhaupt erst die Kategorien, die einer Untersuchung konkreter Phasen zugrunde liegen. Kategoriale Kurzschlüsse (etwa von der gesamtgesellschaftlichen Wertmasse auf das Bruttoinlandprodukt) gehen daher notwendigerweise in die Irre.

Theorie und Kritik

In der Arbeiterbewegung war die Auffassung verbreitet, Marx liefere eine sozialistische Ökonomie, die man der bürgerlichen Ökonomie gegenüberstellen könne. Ganz in dieser Tradition war auch in entsprechenden Lehrbüchern der DDR oder der Sowjetunion von einer politischen Ökonomie des Kapitalismus die Rede, die man im Marxschen Kapital vorzufinden glaubte. Wie jedoch bereits der Untertitel des Kapital deutlich macht, wollte Marx keine alternative "Politische Ökonomie" liefern, sondern eine "Kritik der politischen Ökonomie". Nun beinhaltet jeder neue wissenschaftliche Ansatz Kritik an den bisherigen Theorien, allein schon um seine eigene Existenzberechtigung nachzuweisen. Marx ging es aber um weit mehr als um diese übliche Kritik. Er wollte nicht nur diese oder jene Theorie kritisieren (das geschieht im Kapital natürlich auch), Marx beanspruchte vielmehr "die" politische Ökonomie zu kritisieren, d.h. er wollte die kategorialen Voraussetzungen einer ganzen Wissenschaft kritisieren. Bereits Ende der fünfziger Jahre machte er diesen Anspruch in einem Brief an Ferdinand Lassalle deutlich, wo er über sein geplantes Werk schreibt
"Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben." (MEW 29, S.550, Hervorhebung von Marx)

Diese Kategorienkritik beginnt bereits bei der abstraktesten Kategorie, dem Wert. Dass die Arbeitsprodukte Warenform besitzen, also nicht nur Gebrauchswert sondern auch Wert darstellen, wird von den Ökonomen als ganz natürlich unterstellt. [2]
"Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt?" (MEW 23, S.94f)

Marx kritisiert hier nicht in erster Linie die Ergebnisse der politischen Ökonomie, sondern die Art und Weise ihrer Fragestellung. Es geht ihm nicht um das, was die politische Ökonomie sieht, sondern um den Bereich dessen, was sie überhaupt sehen kann; es geht ihm um die Art und Weise wie die politische Ökonomie noch vor jeder besonderen Untersuchung, das Feld ihrer Gegenstände konstituiert. Diese Konstitution ist kein willkürlicher Akt einzelner Ökonomen, sondern selbst von den gesellschaftlichen Verhältnissen bedingt, die ein "verkehrtes" Bild von sich selbst erzeugen.

Allgemeinster Ausdruck dieser Verkehrung ist das, was Marx als "Warenfetisch" bezeichnet hat: Die gesellschaftlichen Eigenschaften der Arbeiten erscheinen als gegenständliche Eigenschaften der Arbeitsprodukte, in der Warenform der Arbeitsprodukte nimmt das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen die "phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen" an (MEW 23, S.86). Die Kategorie des Werts, so wie sie in der bürgerlichen Ökonomie existiert, geht von genau dieser "phantasmagorischen Form eines Verhältnisses von Dingen" aus.

Aber nicht nur im Wert, auch in den übrigen Kategorien der politischen Ökonomie drückt sich diese Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse aus, welche eine spezifische "Irrationalität" produziert: an vielen Stellen betont Marx, dass es sich bei diesen Kategorien um "irrationelle Ausdrücke" (wie "Wert der Arbeit") und "verrückte Formen" (wie das zinstragende Kapital) handelt. In der von Marx so genannten "trinitarischen Formel" - der Vorstellung Kapital sei die Quelle von Profit und Zins, Arbeit die Quelle des Arbeitslohnes und der Boden die Quelle der Grundrente ist dann "das Zusammenwachsen der stofflichen Produktionsverhältnisse mit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmtheit vollendet" (MEW 25, S.838). Erst hier, am Ende des Dritten Bandes des Kapital ist es Marx möglich, die "verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt" (ebd.) zu skizzieren, in der die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft immer schon leben, die sie als "natürlich" voraussetzen und aus der die politische Ökonomie auch ihre Kategorien schöpft. [3] Die "irrationalen" und "verkehrten" Kategorien der politischen Ökonomie sind nicht Ausdruck individueller Irrtümer einzelner Ökonomen, es sind vielmehr "gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten Produktionsweise" (MEW 23, S.90).

Kritik der politischen Ökonomie bedeutet nun, diese Kategorien zu kritisieren, das theoretische Feld, dem sie ihre scheinbare Plausibilität verdanken, aufzulösen. An dieser Stelle trifft sich Erkenntniskritik und Analyse kapitalistischer Produktionsverhältnisse: keines ist ohne das andere möglich. In der Geschichte des Marxismus und der traditionellen Arbeiterbewegung wurde die erkenntniskritische Seite der Marxschen Argumentation meistens vernachlässigt und Marx zum besseren Ökonomen gemacht. Mit der in den 60er und 70er Jahren in der Folge der Studentenbewegung einsetzenden neuen Marx-Rezeption wurde dann die erkenntniskritische Seite gegen eine ökonomistisch verkürzte Marx-Rezeption in den Vordergrund gestellt (in der westdeutschen Diskussion insbesondere durch Autoren wie Alfred Sohn-Rethel, Helmut Reichelt und Hans-Georg Backhaus u.a.), was dann später dazu führte, dass bei manchen Autoren "Theorie" und "Kritik" einander abstrakt gegenübergestellt wurden, so als sei eine Theorie der kapitalistischen Produktionsweise bereits eine Abweichung von der reinen Kritik. Marx beschreitet aber den Weg einer "Kritik durch Darstellung", von der im zitierten Brief an Lassalle die Rede ist: die Irrationalität der bürgerlichen Kategorien wird gerade in der Analyse der ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Formbestimmungen aufgezeigt.

Ähnlich wie beim oben angesprochenen Verhältnis von Theorie und Geschichte ist mit der Formulierung des Marxschen Kritikanspruches noch nicht ausgemacht, ob und inwieweit er diesen Anspruch tatsächlich eingelöst hat. Zu dieser kontrovers diskutierten Frage habe ich meine Position in "Die Wissenschaft vom Wert" deutlich zu machen versucht: in den ökonomiekritischen Schriften, die ab 1857 entstanden sind, ist zwar ein radikaler Bruch mit dem theoretischen Feld der politischen Ökonomie angelegt, an vielen Stellen bleibt Marx diesem Feld aber immer noch verhaftet, so daß sich beständig zwei verschiedene Diskurse durchkreuzen und für eine Reihe von Ambivalenzen in seiner Argumentation sorgen. Diese Ambivalenzen produzieren einerseits eine Reihe seit langem diskutierter theoretischer Problem (wie etwa das sogenannte Transformationsproblem). Anderseits ist in ihnen die Grundlage unterschiedlicher und zum Teil gegensätzlicher Textinterpretationen zu sehen, die sich, indem sie eine Seite der ambivalenten Auffassungen herausgreifen, "auf den Text" stützen können. Für ihre Vertreter sind die jeweiligen Interpretationen dann unmittelbar evident, während sie umgekehrt ihren Kritikern ein völliges Mißverständnis der Marxschen Argumentation vorwerfen. Gibt man die Ambivalenz der Marxschen Texte zu, dann ist so etwas wie eine "authentische" Interpretation nicht mehr möglich, man kann nur noch an bestimmte Teile der Marxschen Argumentation anschließen und muß wichtige Punkte der Wert- Geld- und Krisentheorie auch gegen bestimmte Marxsche Auffassungen entwickeln (was ich unter anderem beim Problem der Geldware oder beim Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate versucht habe).

Wert- und Geldtheorie

Nicht nur von Marx-Kritikern, auch von vielen Marxisten (und insbesondere in dem Marxismus, der in der klassischen Arbeiterbewegung vorherrschte), wird die Marxsche Werttheorie im wesentlichen auf die Aussage reduziert, dass der Wert der Waren durch das Quantum der zu ihrer Produktion gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bestimmt sei. Im Unterschied zur klassischen politischen Ökonomie sei sich Marx über den "Doppelcharakter der Waren produzierenden Arbeit" im Klaren gewesen sei: Gebrauchswert produziert die Arbeit in ihrer konkreten (je nach Produktionszweig unterschiedlichen) Gestalt, Wert produziert sie dagegen als abstrakte Arbeit, als menschliche Arbeit "im physiologischen Sinn" (MEW 23, S.61), die jeder anderen menschlichen Arbeit gleichgilt. Abstrakte Arbeit bildet die Substanz des Warenwerts und dieser Wert scheint gerade so in der einzelnen Ware enthalten zu sein, wie die Marmelade im Pfannkuchen.

Diese Auffassung der Werttheorie ist in doppelter Hinsicht problematisch: sie ist substanzialistisch, insofern sie den Wert als quasi-dingliches Substrat auffaßt, das sich in jeder einzelnen Ware befindet (also noch vor dem Austausch und ohne jeden Bezug auf Geld als selbständiger Gestalt des Werts) und sie ist naturalistisch, insofern sie dieses angeblich in der einzelnen Ware vorhandene Substrat als Resultat ungesellschaftlicher, nämlich physiologischer Eigenschaften menschlicher Arbeit auffaßt. Zwar kann sich ein solches Verständnis der Werttheorie auf eine Reihe von Marxschen Äußerungen vor allem in den ersten beiden Unterabschnitten des ersten Kapitels stützen, sie steht aber implizit in Widerspruch mit der Argumentation im Fetischabschnitt, wo festgehalten wird:
"Erst innerhalb des Austauschs erhalten die Arbeitsprodukte eine von ihrer sinnlich verschiednen Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit" (MEW 23, S.87)

Wert kommt somit nicht bereits einer einzelnen Ware zu, Wertgegenständlichkeit ist eine gesellschaftliche Eigenschaft, ein gesellschaftliches Geltungsverhältnis, das nur im Tauschzusammhang existiert. Dementsprechend kann sich die Wertsubstanz abstrakte Arbeit [4] auch nicht physiologischen Eigenschaften der Arbeit verdanken (vergl. dazu den unten abgedruckten Artikel "Abstrakte Arbeit"). Explizit geht Marx im Überarbeitungsmanuskript zur 2. Auflage auf das Problem ein, dass Wert gerade keine Bestimmung einer einzelnen Ware ist, die entsprechenden Passagen dieses Textes sind ebenfalls weiter unten abgedruckt. Unter anderem um das Problem substanzialistische/nicht-substanzialistische Werttheorie ging es auch in der ersten Runde der Auseinandersetzung zwischen Norbert Trenkle und mir in Streifzüge 3/98 und 1/99 (unten im krisentheoretischen Teil abgedruckt).

Die substanzialistische Auffassung, dass Wert eine Eigenschaft der einzelnen Ware ist, hat noch weitere Konsequenzen: Wert- und Geldtheorie sind dann nämlich zwei ganz verschiedene Angelegenheiten. Wie in der bürgerlichen Theorie wird Geld auf ein bloßes Hilfsmittel für den Austausch reduziert. Dagegen war es das eigentliche Thema der Marxschen Wertformanalyse aufzuzeigen, dass der Wert der Waren eine selbständige Gestalt benötigt, in der er sich ausdrücken kann und diese Gestalt ist die "allgemeine Äquivalentform" bzw. weiterentwickelt die Geldform: die Marxsche Werttheorie ist - wie in den 70er Jahren vor allem von Hans-Georg Backhaus herausgearbeitet wurde [5] - "monetäre Werttheorie", die eine Fundamentalkritik an den "prämonetären Werttheorien" von Klassik und Marginalismus aber auch des traditionellen Marxismus darstellt.

Allerdings leidet die Marxsche Auffassung des Geldes auch an einem bedeutenden Defizit, da Marx davon ausgeht, dass Geld an eine Geldware gebunden sein muss. Zwar weiß auch Marx, dass diese Geldware im täglichen Umgang mit Geld nicht selbst auftauchen muß, die dort vorhandenen Wertzeichen faßt er aber als Repräsentanten, Stellvertreter des "wirklichen" Geldes (der Geldware) auf. Beim gegenwärtigen Geldsystem kann man allerdings nicht mehr davon sprechen, dass die umlaufenden Wertzeichen noch irgendeine besondere Geldware repräsentieren würden. Es handelt sich um ein reines Zeichengeld. Entledigt man sich diesem Problem, indem man behauptet, Marx habe das auf einer Geldware beruhende Geldsystem seiner Zeit analysiert und dies habe sich dann eben zu einem Geldsystem weiterentwickelt, das keine Geldware mehr benötigt, dann reduziert man Marx’ Kritik der politischen Ökonomie doch wieder (zumindest an diesem Punkt, der allerdings von zentraler Bedeutung ist) auf die Theorie einer bestimmten historischen Phase des Kapitalismus, was im Widerspruch zu ihrem Anspruch steht, die kapitalistische Produktionsweise "in ihrem idealen Durchschnitt" darzustellen. Allerdings scheint mir das Marxsche Beharren auf der Existenz einer Geldware keineswegs zwingend zu sein: aus der Wertformanalyse folgt zunächst einmal, dass die Warenwelt einen selbständigen Wertausdruck benötigt, d.h., dass neben den Waren auch noch ein gesondertes Ding existieren muß, das als das selbständige Dasein von Wert gilt. Das "Verrückte" an diesem Verhältnis wird in der Erstauflage des Kapital durch einen instruktiven Vergleich deutlich gemacht:
"Es ist als ob neben und außer Löwen, Tigern, Hasen und allen andern wirklichen Thieren, die gruppirt die verschiednen Geschlechter, Arten, Unterarten, Familien u.s.w. des Thierreichs bilden auch noch das Thier existirte, die individuelle Incarnation des ganzen Thierreichs." (MEGA II.5, S.37, Hervorhebung von Marx)

Genausowenig wie "das Tier" als ein besonderes Individuum existieren kann, kann aber auch Wert als solcher existieren. Genau wie das Tier als solches kann auch Wert als solcher nur durch einn besonderes Individuum bezeichnet werden. Ob dieses Individuum jedoch selbst ein Mitglied der Gattung sein muß, die es bezeichnet, oder ob etwas anderes als ein solches Zeichen dient (ob also - um im Bild zu bleiben - der Löwe als das Tier schlechthin gelten soll, oder ob diese Funktion auch ein Pappschild mit dem Aufdruck "Tier" übernehmen kann ), ist eine ganz andere Frage. Die Wertformanalyse zeigt die Notwendigkeit dieses verrückten Verhältnisses auf, dass die Gattung als besonderes Individuum existieren muss, aber sie begründet nicht in welcher Gestalt sie dies tun muss. Daher läßt die Wertformanalyse die Frage offen, ob das Geldsystem tatsächlich eine Geldware benötigt oder nicht.

Ihre Fortsetzung findet die Geldtheorie in der Kredittheorie, die im dritten Band des Kapital, wo explizit von Zins und Kredit die Rede ist, aber nur rudimentär entwickelt wird. Relevant für die Kredittheorie ist aber nicht nur das im dritten Band enthaltene Material, sondern auch eine Reihe von Themen, die bereits im ersten und im zweiten Band angesprochen werden, wie etwa die Rolle des Geldes als Zahlungsmittel und die daraus resultierende Form des Kreditgeldes oder die Rolle der wechselseitigen Geldvorschüße (und damit der notwendigen Kreditverhältnisse) bei der Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. In jedem Fall wird jedoch deutlich, dass so wie es keine Warenzirkulation ohne Geld gibt, auch keine Zirkulation und Akkumulation von Kapital ohne Kredit existiert. Kreditverhältnisse kommen nicht als etwas Äußerliches zur kapitalistischen Produktion hinzu, sie sind ihr vielmehr inhärent. Daher ist auch die bloße Ausweitung von Kreditbeziehungen allein noch kein Anzeichen einer besonderen Instabilität oder Krisenhaftigkeit kapitalistischer Verhältnisse, wie zuweilen angenommen wird (mit der Marxschen Kredittheorie beschäftigt sich ein unten abgedruckter Text; das Verhältnis von Kredit und Krise wurde auch im zweiten Teil der Kontroverse zwischen Norbert Trenkle und mir in Streifzüge 1/2000 und 2/2000 angesprochen).

Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate und Krisentheorie

Beim "Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate" handelt es sich nicht um die empirische Verallgemeinerung der Profitratenentwicklung eines bestimmten Zeitraums, sondern um den Versuch, aus den allgemeinen Eigenschaften der kapitalistischen Produktionsweise auf rein theoretischem Weg die Notwendigkeit einer fallenden Tendenz der Durchschnittsprofitrate nachzuweisen. Marx war nicht der erste, der von einer solchen Tendenz ausging (dies taten auch schon Adam Smith und David Ricardo), allerdings beanspruchte er der erste zu sein, der eine korrekte Begründung für diesen Tendenz geben könne. Der tendenzielle Fall resultiere aus der (bereits im ersten Band des Kapital) begründeten Tendenz zu einer beständigen Entwicklung der Produktivkräfte innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise, wobei der Einsatz vermehrter und immer kostspieligerer Maschinerie die Hauptmethode zur Produktivkraftsteigerung sei. Im dritten Band zieht Marx dann Konsequenzen für die Bewegung der Profitrate: die Produktivkraftsteigerung führe zwar zu einer Steigerung des relativen Mehrwerts und damit zu einer Erhöhung der Mehrwertmasse, die die einzelne Arbeitskraft liefere, zugleich nehme aber das Kapital, das vorgeschossen werden muss, um diese Arbeitskraft auszubeuten, noch stärker zu, so dass als Resultat die Profitrate (das Verhältnis von Mehrwertmasse und vorgeschossenem Kapital) sinke.

Marx unternahm mehrere Anläufe, um diesen Zusammenhang präzise zu begründen. In der Literatur ist das "Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate" heftig umstritten (wobei es nicht um die empirische Frage geht, ob die Profitrate nun gestiegen oder gefallen ist, sondern um Korrektheit der theoretischen Begründung). Das zentrale theoretische Problem bei der Begründung dieses "Gesetzes" besteht darin, dass die Bewegung der Profitrate von insgesamt drei Größen abhängig ist, dass aber theoretisch abgesicherte Aussagen nur über zwei gemacht werden können: Abhängig ist die Profitrate von der Zunahme der Mehrwertmasse, der Zunahme des vorgeschossenen Kapitals und dem Geschwindigkeitsverhältnis dieser beiden Bewegungen. Während sich zwar gut begründen läßt, dass sowohl die Mehrwertmasse (pro Arbeitskraft) als auch der Kapitalvorschuß (pro Arbeitskraft) steigt, läßt sich für die lange Frist erst einmal keine Aussage darüber machen, welche der beiden Größen schneller steigt (ein ähnliches Problem ergibt sich auch, wenn man die Profitrate als Verhältnis von Mehrwertrate und organischer Zusammensetzung darstellt, auch dann läßt sich zwar zeigen, daß beide Größen zunehmen, aber nicht welche der beiden schneller zunimmt). Insofern ist meiner Meinung nach der Marxsche Versuch gescheitert, den tendenziellen Fall der Profitrate konsistent zu begründen (ausführlich setze ich mit diesem Problem in der "Wissenschaft vom Wert" S.327ff auseinander).

Nach einer weit verbreiteten Ansicht hängt die Schlüssigkeit der Marxschen Krisentheorie aber gerade Gesetz vom tendenziellenp Fall der Profitrate, Krisen werden häufig als Ausdruck der Tendenz zum Profitratenfall betrachtet. Dieser Auffassung wurde durch die Engelssche Edition des dritten Bandes Vorschub geleistet, indem er die krisentheoretischen Überlegungen, die sich am Ende des Abschnitts über den Profitratenfall finden, in einem eigenen Kapitel unter der Überschrift "Entfaltung der innern Widersprüche des Gesetzes" (die Kapitelüberschrift, wie auch die Einteilung und die Unterüberschriften stammen von Engels nicht von Marx!) zusammenfaßte. Damit erweckte er den Eindruck als liege hier eine weitgehend fertige Krisentheorie vor, die auf dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate beruhen würde (zu den Unterschieden zwischen dem Marxschen Originalmanuskript und der Engelsschen Edition des dritten Bandes wurde unten ein Text abgedruckt; in der Textsammlung sind die krisentheoretischen Passagen auch nicht in der Engelsschen Redaktion wiedergegeben, sondern im Marxschen Original). Eine genaue Lektüre des Textes zeigt jedoch, dass bei den meisten der hier angestellten krisentheoretischen Überlegungen das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate keine besonders wichtige Rolle spielt: die Marxsche Krisentheorie läßt sich auch ohne dieses Gesetz entwickeln. Allerdings liegt keine einheitliche Krisentheorie vor. Die Krisenhaftigkeit kapitalistischer Entwicklung wird in unterschiedlichen Kontexten diskutiert: als Auseinanderfallen von Produktion und Konsumtion, als widersprüchliche Wirkungen der Produktivkraftentwicklung und als Überproduktion (Überakkumulation) von Kapital. Damit werden nicht einfach verschiedene Seiten desselben Krisenprozesses angesprochen, es gibt hier nicht nur inhaltliche Unterschiede, sondern auch Unterschiede in der Ebene der Darstellung. Es unterscheidet sich also auch der theoretische Status dern einzelnen Passagen - es ist keineswegs klar, ob sie alle zur Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise "in ihrem idealen Durchschnitt" gehören. Allein deshalb verbietet sich bereits eine einfache Addition der verschiedenen Ansätze zu "der" Krisentheorie.

Schließlich wurde anhand der krisentheoretischen Passagen des dritten Bandes (sowie eines Abschnitts aus den Grundrissen, der ebenfalls unten wiedergegeben ist) auch die Frage diskutiert, ob Marx zusammenbruchstheoretisch argumentiert. Daß Marx eine Zusammenbruchstheorie begründet habe, wurde - in unterschiedlicher Weise - in der Geschichte der Arbeiterbewegung vertreten. Ein Revival hat diese Auffassung in den 90er Jahren bei Robert Kurz und der Gruppe "Krisis" erlebt. Die Frage, ob es eine Marxsche Zusammenbruchstheorie gibt (und ob der Kapitalismus jetzt vor seinem Zusammenbruch steht), ist der zentrale Punkt in der unten abgedruckten Kontroverse zwischen Norbert Trenkle und mir.