Ingo Elbe

Herbert Jäger: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft

Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität

Im Jahr 1967, als sich kaum ein Historiker für die Täter des Nationalsozialismus interessierte, jeder sich kritisch dünkende Philosoph von der ‚Unbegreifbarkeit‘ der Vernichtungslager schwadronierte oder die Shoah aus ‚der Moderne‘ schlechthin herleitete, erschien das Buch „Verbrechen unter totalitärer Herrschaft“ des Kriminologen Herbert Jäger. Er wendet sich gegen die angeführten Tendenzen zur „Dämonisierung“ (‚das radikal Böse‘) einerseits und „zur völligen Depersonalisation“ (‚Marionetten‘, ‚industrieller Verwaltungsmassenmord‘, ‚banal Böses‘) andererseits. Jägers Untersuchung lässt verquaste Genozid-Theologie, Zivilisations- oder Modernekritik also hinter sich und bietet stattdessen eine Beschreibung der Täter und ihrer Taten auf der Grundlage der akribischen Auswertung juristischer Verfahren.

Jäger widerlegt detailliert die exkulpatorischen Mythen eines ‚Befehlsnotstands‘, eines sich angeblich unterschiedslos gegen die gesamte deutsche Bevölkerung richtenden Nazi-Terrors und eines vermeintlich fehlenden Unrechtsbewusstseins der Täter. Auch die beliebte Gleichsetzung von Krieg, Kriegsverbrechen und systematischem Genozid wird treffend kritisiert. Das Buch belegt durchgehend, wie falsch die Behauptung ist, Gerichtsverfahren gegen NS-Täter hätten angesichts der Dimension der Morde keine Relevanz. Gegen Hannah Arendts noch heute kolportierte These, die Shoah stelle ein Verbrechen dar, für das „niemand im Ernst die Verantwortung … übernehmen kann“, zeigt Jäger, dass die damit verbundene Betrachtung der Shoah als „transpersonales Geschehen“ falsch ist. Jäger zufolge ist es gerade die kriminologische und strafprozessuale Perspektive, die erstens die Aufklärung über den konkreten Verlauf der Verbrechen befördert hat – also eine „Feststellungswirkung“ beträchtlichen Ausmaßes hatte, die von Philosophen im Lehnstuhl, die über die ‚instrumentelle Vernunft‘ reflektieren, niemals bewirkt worden wäre – und zweitens dabei zeigen konnte, wie groß die Handlungsspielräume der Täter waren. Hier ist insbesondere Jägers Tätertypologie von „Exzess“-, „Befehls“- und „Initiativtätern“ hervorzuheben, die einen differenzierteren Blick auf die einzelnen NS-Verbrechen ermöglicht. Jäger betont, dass „auch kollektiver Terror nicht einfach eine Naturkatastrophe ist, sondern daß er ein Mosaik bildet aus … verbrecherischen Einzelakten“.
Jägers Buch ist immer noch mit Gewinn zu lesen, auch wenn natürlich die Quellenlage heute breiter und besser ist. Es sollte als Vorreiter und Klassiker einer Täterforschung gewürdigt werden, die leider erst 30 Jahre später wirklich einsetzte. Es kann zudem als Korrektiv gegen fragwürdige und freihändige Thesen über ‚Moderne und Holocaust‘ gelesen werden, die leider noch immer den philosophischen und feuilletonistischen Diskurs bestimmen.