Ingo Elbe

Michael Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann

Die moralischen Grenzen des Marktes

Der kommunitaristische Harvard-Philosoph Michael Sandel hat mit „Was man für Geld nicht kaufen kann“ eine populäre Anwendung seiner Gerechtigkeitstheorie vorgelegt, die zum weltweiten Verkaufserfolg avancierte. Wenn man nicht auf die Details achtet, könnte man das Programm des Buches als Veranschaulichung der Habermasschen Kritik einer „Kolonialisierung der Lebenswelt durch systemische Imperative“ beschreiben – bis in die Wortwahl hinein ähneln sich die Diagnosen. Freilich teilt Sandel ganz und gar nicht Habermas‘ transzendentalpragmatische Moralbegründung, dennoch eint beide Denker die These, es gebe gesellschaftliche Prozesse, die über den Markt geregelt werden können – solche, ‚wo der Markt hingehört‘ – und Prozesse, die entweder nicht kommodifizierbar sind, ohne vollends zerstört zu werden (Sandel nennt Freundschaft und Sachreputation), oder durch ihre Verwandlung in Waren korrumpiert (verderbt, zerrüttet) werden.

Sandel entwickelt vorrangig zwei „Argumente für die Begrenzung von Märkten“ (139): Das Unfairness- bzw. Unfreiheitsargument und das Korruptionsargument. Ersteres kritisiert an Beispielen wie Märkten für die Umgehung von Warteschlangen, für Adoptivkinder oder Nieren die ideologische Gleichsetzung der Wertschätzung von Gütern mit Zahlungsfähigkeit und -willigkeit (42f.) sowie die Identifizierung von Marktfreiheit mit Freiwilligkeit (59f., 138ff.): Menschen, die Nieren verkaufen, seien meist in einer wirtschaftlichen Notlage, die Freiwilligkeit des Verkaufs daher Makulatur. Auch würden nichtsolvente Bedürftige damit vom Zugang zu Organen ausgeschlossen. Diese Kritik bezieht sich also auf die Moralitätsbedingungen von Verträgen, thematisiert strukturelle Zwänge, soziale Ungleichheit und Exklusion. Das Korruptionsargument hingegen sei davon unabhängig und thematisiere die Herabsetzung von Gütern, die kommodifiziert werden: So werde im Falle der verkäuflichen Niere der Mensch zum Ersatzteillager (für zahlungsfähige Kunden) degradiert oder im Falle der monetären Belohnung des Lesens von Büchern in Schulen könne das Lesen vom Bildungszweck zum Mittel des Geldverdienens verkehrt werden. Hier stehen also Integrität und Würde von Praktiken, Menschen und Gegenständen im Vordergrund (60, 138ff., 248).
Sandels Buch besticht durch seine Anschaulichkeit und seine Behandlung moralphilosophischer Sachverhalte anhand vieler konkreter Beispiele für das Problem zunehmender Vermarktlichung. Seine Kritik an der (neoklassischen) Ökonomie und deren Blindheit gegenüber den normativen Voraussetzungen und Konsequenzen ihres Denkens, vor allem gegenüber dem „Kommerzialisierungseffekt“ (150) auf Güter, kann im Detail überzeugen. Allerdings fehlen nicht nur Hinweise auf die philosophische Begründung der von Sandel verteidigten Normen, die zudem keineswegs immer harmlos sind – so spricht sich der Autor, der schon für seinen „Patriotismus“ bekannt ist, völlig unkritisch für „vom Sport vermittelte Gemeinschaftserfahrungen“ aus (214f., 249), die oft genug kollektiv narzisstisch und dem Gegner gegenüber hasserfüllt sind. Es bleibt auch ganz und gar unerfindlich, warum er seine Kriterien der Marktkritik nicht auf die Lohnarbeit ausdehnt, wenn er Sklaverei (17), das Wetten von Unternehmen auf den Tod ihrer Angestellten (169) oder Prostitution (140) ob ihrer entwürdigenden und unfairen Dimensionen verurteilt. Es mutet geradezu grotesk an, wenn Sandel einerseits feststellt, dass „Marktbeziehungen nur dann als frei gelten können, wenn die Voraussetzungen für Kauf und Verkauf fair sind, also nur dann, wenn keiner durch die nackte wirtschaftliche Notwendigkeit dazu gezwungen ist“ (230) und er andererseits offenbar nichts gegen Lohnarbeit einzuwenden hat. Ist die „wirtschaftliche Notwendigkeit“ bei dieser weniger „nackt“ als bei der von Sandel erwähnten Frau, die sich die Stirn mit Werbung tätowieren ließ, um die Ausbildung ihres Kindes bezahlen zu können? Sandel suggeriert, dem für ihn legitimen, fordistischen Kapitalismus sei es um das Wohlergehen seiner Arbeiter und die Mehrung des Gemeinwohls gegangen, statt um die Verwendung der Arbeiter als Mittel für die Profitproduktion und die Ausnutzung des strukturellen Zwangs zum Verkauf ihrer Arbeitskraft. Völlig außen vor bleibt die Frage, welche, um in der Terminologie des Autors zu verbleiben, gegen Autonomie, Integrität und Fairneß gerichteten Konsequenzen Märkte prinzipiell haben könnten. Jedenfalls scheint sich Sandel einer stillschweigenden und ohne jedes Argument auskommenden Zustimmung gewiss zu sein, wenn er meint, in einer „Marktwirtschaft“ seien Märkte „ein wertvolles und wirksames Werkzeug“ für die materielle Reproduktion und den allgemeinen Wohlstand, während sie in „Marktgesellschaften“ zu Unrecht alle sozialen Beziehungen vereinnahmen (18). Man mag schon gar nicht mehr aufzählen, in wie vielen neueren Traktaten diese naive, den fordistischen Metropolenkapitalismus verklärende Ideologie der ‚Wirtschaft, die für den Menschen da ist‘ auftaucht. Hier zeigt sich die Grenze eines Denkens, das nur die moralphilosophische Einbettung und Relativierung, nicht aber die grundlegende wissenschaftliche Prüfung ökonomischer Kategorien betreibt. Hier zeigt sich auch der Zynismus von Moralphilosophen, die einerseits den enthumanisierenden Kommerzialisierungseffekten des Neoliberalismus nachspüren, aber ohne jede Sensibilität für das vom sog. wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus produzierte Leid sind. Wer sich dieser Grenzen bewusst ist und die erwähnte Ideologie verdauen kann, kann Sandels Buch aber eine Menge schöner Beispiele für marktförmig organisierte Menschenfeindlichkeit und ihre dauerhaften moralischen Konsequenzen entnehmen.

(von der Redaktion verändert erschienen in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie 57/2013)