Fabian Kettner

Gerhard Paul (Hg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? / Gerhard Paul & Klaus-Michael Mallmann (Hg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront’ und besetztes Europa

Falscher Gegensatz

Erfreulich und für dt. Historiker ungewöhnlich hart geht Gerhard Paul, selber Professor für Geschichte in Flensburg, mit der Beschäftigung der dt. Historiographie mit der Shoah und ihren TäterInnen ins Gericht. Es gebe eine „Angst der deutschen NS-Forschung vor den Tätern“, sie bilde „kein isoliertes akademisches Terrain“, sondern spiegele „die Tabus und Verdrängungen, die Ängste und Interessen der deutschen Nachkriegsgesellschaft und der Geschichtswissenschaft wider“ (13). So beginnt er seinen vorzüglichen ausführlichen Literaturüberblick, der Die Täter der Shoah einleitet, und im Gegensatz zu den in der letzten Zeit beschworenen, selbstverschuldeten Leiden der Deutschen bei Bombennächten (Jörg Friedrich) und Vertreibung (Günter Grass) gibt es hier wirklich einige weiße Flecken zu tilgen.

In dem „Erinnerungskompromiß einer nachdiktatorischen Gesellschaft“ (18) wurde die Shoah bis Ende der 1960er Jahre mit abstrakten Begriffen wie „Gewaltverbrechen“ und „Katastrophe“ (16) vernebelt, in einer „Operation der Abspaltung und Ausgrenzung“ (17) institutionell auf SA und SS isoliert, den ausführenden Organen ein Befehlsnotstand zugestanden, was die Vorstellung einer zentralen Planung voraussetzt. Von Beginn der 60er bis Ende der 80er Jahre wurde zwar über die Betonung gesellschaftlicher Strukturen eine breitere Verantwortung thematisiert, doch über eine „objektivistische Deutung“, ein „funktionalistisches Täterbild“ und einen „amorphen Täterbegriff“ wurde ein „neuer Vermeidungsdiskurs“ (20) geschaffen.

Das „Paradigma der technisierten Tat“ (Auschwitz) und das „Modell des autoritätshörigen Täters“ (Höß, Eichmann) wurde zu einem „System quasi axiomatischer Glaubenssätze“ erhoben. Das „Bild eines fabrikmäßigen, hygienischen und anonymen Massenmordes“ (21), wie es nicht zuletzt durch Hannah Arendt und Raul Hilberg (i.ü. entgegen ihren Intentionen) entworfen und vom marxistischen Diskurs ergänzt wurde, erlaubte den Nazi-Kindern eine Distanzierung vom Geschehen, ohne die Tat selbst leugnen zu müssen. Vor Daniel J. Goldhagen gab es keinen eigenen Diskurs einer „quellengestützten Hinwendung zum konkreten Verbrechensgeschehen vor Ort“ (37). Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker wird bei aller Kritik an der Methode zugestanden, als „Schneisenbrecher“ (41) gewirkt zu haben. Ähnlich wie in dem von Ulrich Herbert hg. Band Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1933 – 1945 (Fischer, 1998) bekommt man in Die Täter der Shoah Einblick in umfangreiche neue Arbeiten, die, v.a. durch den relativ neuen Zugang zu osteuropäischen Archiven ermöglicht, die „Politik der Vernichtung“ (Longerich) umfassend beschreiben und die Beteiligung der diversen vor Ort tätigen Gruppen analysieren. Karin Orth analysiert Struktur, Zusammensetzung und Handeln der Konzentrationslager-SS, Klaus-Michael Mallmann schreibt über die Sicherheitspolizei in Westgalizien, Jürgen Matthäus über die Beteiligung der Ordnungspolizei, Walter Manoschek über die der Wehrmacht an der Shoah, Bogdan Musial widmet sich der Rolle der Zivilverwaltung im Generalgouvernement und Dieter Pohl der von ukrainischen Hilfskräften. Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg versammelt 26 kleinere Arbeiten über die „Türöffner der Endlösung“ (Mallmann), in institutioneller Perspektive, auf internationaler wie auf regionaler Ebene.

Paul sieht hierin „insgesamt einen fruchtbaren Perspektivenwechsel weg von den Entscheidungszentren des Dritten Reichs hin zu seinen Randgebieten“, womit man ein „differenzierteres Bild der Taten und der Täter“ zeichnen könne (60). Die durch den Titel von Christopher R. Brownings Studie Ganz normale Männer (Rowohlt, 1993) aufgeworfene Frage, ob die Täter „hauptsächlich Männer mitten aus der Gesellschaft – keine ideologisierten Roboter, sondern Durchschnittstypen, ein Querschnitt der deutsch-österreichischen Bevölkerung unter dem Nationalsozialismus“ (Mallmann) waren oder nicht, wird unterschiedlich beantwortet. Weil man sich zunfttypisch stereotyp gegen „Monokausalität“ ausspricht und stattdessen lieber „multifaktorell“ ein ganzes „Bündel von objektiven, kulturellen, von kognitiven und situativen Faktoren“ (Paul, 62f.) schnürt, bleibt die Rolle des Antisemitismus oft unterbeleuchtet, weil Ideologie auf über Indoktrination angenommene Weltanschauung und bewusste explizite Propagierung, wenn nicht gar auf eine „Generalabsolution“, für die eigenen Untaten, auf einen „Antisemitismus der Profiteure“ (Mallmann) reduziert wird. Hanno Loewy dagegen schlägt in einem der beiden sozialpsychologischen Betrachtungen vor, Antisemitismus als „etwas wie eine Sprache [aufzufassen], in der sich die deutsche Gesellschaft über die ganz pragmatischen Fragen des Alltags und ihre vermeintlichen Lösungen verständigte“ (262). Dann müsse es auch nicht mehr „entweder fanatische Nationalsozialisten oder normale Deutsche“ (261) heißen. Ebenso kritisiert Harald Welzer die Täterforschung dafür, „Täterhandeln prinzipiell als abweichendes Verhalten“ (241) zu verstehen. Dass es dies nicht war, zeigen die einzelnen Aufsätze.

Paul freut sich über eine gegenwärtige „von Entlastungs- und Exkulpationsbedürfnissen weitestgehend freie geschichtswissenschaftliche Täterforschung“ (67). So gut die Studien der letzten zehn Jahre sind, so bleibt abzuwarten, welchen Verlauf die Forschung nimmt und welchen öffentlichen Diskurs sie beeinflussen. Loewy sieht die Deutschen skeptisch als „schuldig und gereinigt, vor allem aber eines, ein aus Tat und Sühne hervorgegangenes ethnisches Kollektiv. Also vielleicht genau das, was die Nazis stiften wollten: ein Volk“ (260).

Gerhard Paul (Hg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Band 2). Göttingen: Wallstein, 2002. ca. 260 Seiten, € 20,-
Gerhard Paul & Klaus-Michael Mallmann (Hgg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront’ und besetztes Europa. Darmstadt: Primus, 2000. ca. 660 Seiten, € 49,90 (bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für € 39,90)