Fabian Kettner

Wolfgang Kraushaar: Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus

Deutsche Selbstbefreiung

In der Nacht zum 09.11.1969 wurden in West-Berlin Gedenkstätten für Opfer der NS-Herrschaft mit den Parolen „Schalom“, „Napalm“ und „El Fatah“ beschmiert. Am Abend des 09.11. wurden im Republikanischen Club, einem Diskussionstreffpunkt der neuen westdeutschen Linken um den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), passend zum Thema des Abends: „Palästina – ein neues Vietnam?“ Flugblätter ausgelegt, mit denen sich eine Stadtguerilla-Gruppe namens Schwarze Ratten Tupamaros Westberlin zu einem Anschlag bekannte, der gar nicht stattgefunden hatte. Am 10.11. entdeckte eine Reinigungskraft im jüdischen Gemeindezentrum in West-Berlin zufällig eine Bombe. Diese war einen Tag zuvor während einer Veranstaltung zum Gedenken an die „Reichskristallnacht“ unbemerkt im Gebäude deponiert worden und sollte wenig später detonieren. Glücklicherweise hatte der Zünder versagt.

Im Bekennerschreiben, das wenige Tage später in der beliebten Untergrundzeitschrift Agit 883 kommentarlos veröffentlicht wurde, war all das enthalten, was die Linke bis heute immer wieder beschäftigt: die Legitimation sog. „berechtigter“ (theoretischer wie praktischer) Israel-Kritik; der Versuch, den sog. „Antizionismus“ vom Ruch des Antisemitismus reinzuwaschen; die Gleichsetzung von Juden/Israelis mit Nazis; das Bemühen, deutschen Linken ihre aus historischen Gründen geübte Zurückhaltung gegenüber Israel auszutreiben. Und immer wieder, und je häufiger desto mehr, bewies diese Linke, dass ihr dies nicht nur nicht gelingt, sondern auch gar nicht gelingen kann, weil bei ihr all dies miteinander verquickt ist und sich gegenseitig bedingt, was sie fein säuberlich trennen möchte. Die Denkmalsschändung wie die Bombe seien „nicht mehr als rechtsradikale Auswüchse zu diffamieren“, wie man zunächst meinen könnte, sondern „ein entscheidendes Bindeglied internationaler sozialistischer Solidarität.“ Offensichtlich gestehen auch die Bekenner zu, dass jene mal als rechtsradikal zu qualifizieren gewesen sein müssen, aber damit die deutsche Linke den Unterschied erkenne, wollen sie „das bisherige Verharren der Linken in theoretischer Lähmung bei der Bearbeitung des Nahostkonflikts“, worin sie ein „Produkt des deutschen Schuldbewußtseins“ sehen, beenden. Denn „daß die Kristallnacht von 1938“, deren 31. Jahrestag die Linken und Antiimperialisten sich nicht von ungefähr als Termin für ihre Aktionen ausgesucht hatten, „heute täglich von den Zionisten in den besetzten Gebieten“ an den Palästinensern „wiederholt“ werde, dass „aus den vom Faschismus vertriebenen Juden ... selbst Faschisten geworden“ seien (48), das gelte es zu begreifen.

Die westberliner Tupamaros waren und sind Avantgarde: Sie taten das, was der Rest der Deutschen nichtmals zu hoffen wagte und erst zwanzig Jahre später anfing: sie traten aus dem Schatten der Vergangenheit, die andere lieber verleugneten oder beschwiegen. Sie waren der Beginn der bundesdeutschen Stadtguerilla und unterliefen deren spätere teilweise skrupulöse Diskussionen über die Differenzierung von Gewalt gegen Sachen vs. Gewalt gegen Menschen und die Kritierien, wonach welcher Mensch warum verletzt oder getötet werden dürfe. Denn sie wollten Menschen töten, weil diese Juden sind und deshalb – qua Jude-Sein, per Sippenhaftung – für die Aktionen des Staates Israel zur Rechenschaft zu ziehen seien. Diese Avantgarde war sehr früh heim ins Reich gekehrt. Ihre Revolte gegen die Gesellschaft und gegen die Eltern, die ja nicht zuletzt die Täter-Generation des Nationalsozialismus war, bestand darin, dort weiterzumachen, wo jene von den Alliierten gestoppt worden waren: beim Judenmord.

Kraushaar rekonstruiert minutiös die Geschehnisse um diese Aktion herum, die Grüppchen, die personellen Verbindungen und Verschiebungen; so ausführlich, dass man teilweise nicht weiß, wozu es nötig ist, und dann noch so schlecht aufgebaut, dass man schon rein von der Chronologie her verwirrt wird, womit sich das Buch also keineswegs „wie ein Doku-Thriller“ (Kulturzeit/3Sat, 29.06.2005) liest. Kraushaar klärt die Vorgänge. Er terminiert den Beginn der deutschen Stadtguerilla neu (vor der Roten Armee Fraktion), er beleuchtet ausführlich die Rolle des V-Mannes Peter Urban, und er hat es tatsächlich geschafft, den Bombenleger vom 09.11.1969 aufzuspüren: es ist der seit über dreißig Jahren im Ausland lebende Albert Fichter, der jüngere Bruder des SPD-Rechten Tilman Fichter.
V.a. aber geht es Kraushaar um den Mann, der „im Zentrum der Entwicklung“ stand: um Dieter Kunzelmann. Dieser habe „die führende Rolle“ innegehabt, sei „der insgeheime Magnet unter der Oberfläche von Grupenbeziehungen – ein Kraftfeld bildend, nicht immer sichtbar, aber um so wirkungsvoller“ (9). Kraushaar geht es nicht nur darum, den „bislang unsichtbar gebliebenen Regisseur“ (70) zu entlarven und zu diffamieren, sondern ihn auch für alles verantwortlich zu machen. Albert Fichter habe zwar die Bombe deponiert – verantwortlich sei aber Kunzelmann, der eine „offenbar tiefverankerte antisemitische Disposition“ habe (292), so Kraushaars überraschender Befund. Kunzelmanns Verhalten sei „von einer schier unglaublichen Infamie“ gewesen. Seine „besondere Heimtücke“ (261) habe darin bestanden, Andere gefährliche Aktionen für sich ausführen zu lassen, während er sich selbst feige im Hintergrund gehalten habe. Über Kunzelmann meldet die Berliner Szene auch in der Gegenwart nichts Erfreuliches (im März 2002 soll er, zusammen mit der berüchtigten Kreuzberger „Kiez-Miliz“, Linke massiv bedroht haben, die Plakate klebten, die zu Solidarität mit Israel aufrufen), aber Kraushaars Tiraden sind durchsichtig. Indem er alles auf ihn schiebt, macht er, wie Martin Kloke in der taz (18.07.) richtig erkannte, genau das, was er der Linken diagnostiziert: er praktiziert „Schuldabwehrantisemitismus“ (25. Kapitel).

Andere, wie Annekatrin Bruhn, „rutschten“ (182) nur in die Szene, die von Kunzelmann beherrscht worden sei, waren also Objekt einer übermächtigen Entwicklung, zu der sie selbst nichts beitaten. Den langen Bericht Fichters protokolliert Kraushaar nahezu kommentarlos, dabei enthält dieser alle Entschuldungsstrategien. Kunzelmann habe sein „antiautoritäres Streben nach persönlicher Befreiung ausgenutzt“ (250) – nicht er hat sich aus unbewussten und vielleicht schamhaft verleugneten autoritären Bedürfnissen den als emanzipativ verkleideten Ich-brechenden Ritualen von Polit-Psycho-Kommunen unterworfen und sie dabei aktiv mitreproduziert. Kunzelmann habe ihn „dauernd bearbeitet“, außerdem „mißbraucht“ im Konflikt mit seinem Bruder Tilman, und „dann kamen die Drogen dazu“: da weiß man weder ein noch aus. Die Tat kann er sich „im nachhinein nur durch diese Psychostreßsituation erklären“ (255).
Aber die Qualen der Seele eines Deutschen reichen tiefer und weiter zurück, sie lagern unter den schweren Schatten der Vergangenheit. In der Schule sei er „im Rahmen der Entnazifizierungskampagne jedes Jahr ein-, zweimal agitiert worden“, indem der Klasse Filme über Nazigreuel vorgeführt worden seien – auch wenn 1951, das frühestmögliche erste Schuljahr Fichters, die Entnazifizierung vom Deutschen Bundestag abgeschafft worden war. Wie Schüler heutzutage, die vom Nationalsozialismus nur wissen, dass sie in der Schule permanent mit ihm bombardiert worden seien, und sonst nichts, und angeblich deshalb nichts mehr von ihm wissen wollen, so redet auch Fichter sich das Leiden unter einem „kollektiven Schuldgefühl“ ein. Durch imaginierte und didaktisch nicht aufbereitete alliierte Propaganda sei er zunächst „relativ proisraelisch oder projüdisch, prosemitisch oder philosemitisch, ja beinahe unkritisch zionistisch“ (258) gewesen, bis er im Sommer 1967 bei einem Aufenthalt in einem Kibbuz sein Damaskuserlebnis hatte, als er, angeblich wegen seiner Mitgliedschaft beim SDS, „plötzlich in ein Baumwollfeld strafversetzt“ und dort von einem älteren Juden österreichischer Herkunft „sehr autoritär“ behandelt und mit rassistischer antipalästinensischer Propaganda konfrontiert worden sei (257). Heute freilich wisse er, für den zwischen Antisemitismus und Antizionismus immer noch „ein großer Unterschied“ besteht (256), dass Gewalt „keine Probleme“ löse, „sie schafft nur neue“ (258). Von Alliierten verunsichert, von Juden vergrätzt, von Neonazis wie dem Antisemiten Kunzelmann verhetzt und missbraucht - und nun schon so lange der Heimat fern: das schwere Schicksal eines Deutschen im 20. Jahrhundert, in dem sich manch einer wiedererkennen mag, der wie Albert Fichter weiß, „wie leicht man in etwas hineinrutschen und zum Spielball in einer eskalierenden Entwicklung werden kann“ (258f.).

Kraushaars Buch, das mit dieser rührenden Geschichte den Antizionismus also berechtigt findet, solange er nicht von Dunkelmännern radikalisiert wird, fand ein breites Echo. Linke und Ex-Linke erkannten wie Jochen Feldmann im Freitag (22.07.), dass Geschichtsschreibung „weh tun“ könne. Götz Aly erinnerte sich an früher und schämte sich ob seiner Blindheit in Sachen linker Antisemitismus (Die Welt, 24.07.). Hier wurde es positiv aufgenommen, nur die nationalbolschewistische junge welt (30.06.), die die Antizionisten von heute bedient, mochte es nicht leiden und kanzelte es als „Klatsch“ ab, den man sowieso schon kenne.
Micha Brumlik, der das Buch am 19.07. in der Universität Frankfurt/M vorstellte, reiht den Antisemitismus der Tupamaros und ihres Umfeldes in seine Geschichte von ‚der’ Linken ein, von der er weiß, dass sie „seit dem 19. Jahrhundert“ antisemitisch sei (Frankfurter Rundschau, 24.07.). Spätestens hier beginnt ein gewisses Unbehagen. Bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fand das Buch so großen Anklang, dass das 24. Kapitel abgedruckt wurde (28.06.). Die Kritik des linken Antisemitismus, das war einmal die Spezialdisziplin von innerlinken Fraktionskämpfen, für die sich niemand sonst interessierte, innerhalb einer Szene, die sowieso dafür bekannt ist, dass sie sich vornehmlich spaltet und untereinander bekämpft. Indem nun andere Akteure diese wichtige Kritik aufgreifen, scheint man sich auf eine neue Version der Totalitarismustheorie zuzubewegen, wonach jeder, der die Welt verändern und nicht nur hinnehmen möchte, zwangsläufig auf den Terrorismus, wenn nicht den Gulag, zusteuere. (Und so wurde ja selbst George W. Bush von Michael Werz zum „Bolschewisten“ geadelt, weil jener die Welt betrachte, wie sie sein solle und nicht, wie sie sei (Züricher Tagesanzeiger, 01.12.2003).) Antisemitismus links und Antisemitismus rechts - les extrêmes se touchent, konstatiert man befriedigt. Kraushaar baut dem mit hanebüchenen Konstruktionen vor, wenn er bspw. „die innere Logik des zum Terrorismus tendierenden Kommunekonzeptes“ (151) behauptet, aber nicht ausweist, oder wenn er in einer Karikatur, auf der ein Stiefel ein Schwein („Pig“) zertritt, die „Springerstiefel-Symbolik der späteren Nazis“ vorweggenommen sieht (157). Die alte Kritik des linken Antisemitismus sollte die Möglichkeit für eine emanzipative Praxis wieder freilegen; die neue will nur alles diskreditieren, was von der sog. ‚politischen Mitte’ abweicht. Dafür ist ihr auch der Vorwurf des Antisemitismus recht, den eben diese Mitte zu weiten Teilen teilt.

Wolfgang Kraushaar: Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus
Hamburger Edition, Hamburg 2005
300 Seiten, Euro 20,00
ISBN 3-936096-53-8