Fabian Kettner

Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung

Nationaler Antisemitimus

Der Zusammenhang von Nationalismus und Antisemitismus sei bislang „nur ungenügend“ (11) analysiert worden, konstatiert Klaus Holz. Dabei sei der moderne Antisemitismus – der „postemanzipatorische“ (113), der ab der Mitte des 19. Jh. vom religiösen zum nationalen sich wandelte – „vor allem anderen durch seine Verknüpfung mit dem Nationalismus konstituiert“ (12). Es ist Holz’ Ziel, „die Sinnstruktur der national-antisemitischen Weltanschauung zu rekonstruieren“ (112). Durch eine genaue Analyse von sechs Texten, Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten (1879), Adolf Stoecker: Unsere Forderungen an das moderne Judentum (1879/80), Edouard Drumont: La France Juive (1886), Adolf Hitler: Warum sind wir Antisemiten? (Rede, 1920), der Protokolle des Slánský-Prozesses (1949-55) und eines Zeitungsartikels aus der österreichischen Neue Kronen-Zeitung zur Waldheim-Affäre (Unbewältigte Vergangenheit, 15.02.1986) möchte er zeigen, „wie in der kulturellen Semantik des modernen Antisemitismus Nationalismus und Antisemitismus verbunden werden“ (115).

Holz rekonstruiert nicht „die historische Genese der Verbindung von Nationalismus und Antisemitismus“ (157). Er konzentriert sich auf den Inhalt und die Aussage der Weltanschauung, auf ihre logische, innere Struktur, auf Semantiken, „soziale, kommunikativ konstruierte, nicht auf ein individuelles Bewußtsein reduzierbare Sinngebilde“ (11), „ein in sich strukturiertes Syndrom von Sinngehalten und nicht vereinzelt auftretenden Vorurteilen“ (28), die zwar von Individuen kommuniziert werden, aber transindividuell sind. Der „kulturelle Wissensvorrat einer Gesellschaft“ (15f.) diene in ausgearbeiteter Form einer Weltanschauung zur Orientierung, zur Reduktion von Komplexität in einer unübersichtlichen Gesellschaft. Semantiken erzeugen „Wir-Gruppen“ (37) und sei „in sich, und nicht erst durch ihre ‚instrumentelle Verwendung’ oder ihre ‚Verwirklichung’, normativ und machtförmig“ (40). Sie formulieren „Erwartungsstrukturen“, nach denen bestimmte „Lösungsperspektiven“ (44) (Assimilation, Vertreibung, Vernichtung) möglich, wenn auch nicht ausformuliert sind. Holz möchte der Soziologie auf die Beine helfen. Zum Antisemitismus habe sie nicht viel zu sagen. Ihr Mangel bestehe darin, dass bei ihr stets die „Semantik auf Kontexte, in denen sie auftritt, zurückgeführt“ (23) werde. Resümierend kritisiert er funktionalistische, kausale, Korrespondenz- und Differenztheorien, in denen eine Analyse der Semantik des Antisemitismus durch „massive Annahmen“ der Theorie (111) zu stark beeinflusst, ja „blockiert“ (23) werde. Er wendet sich gegen „subsumtionslogische Interpretationen“, bei denen vorgefasste „Kategorienraster den Texten äußerlich bleiben“ und einem „Ordnungsmuster“ folgen, „das den antisemitischen Texten übergestülpt wird“ (121).

Holz unterscheidet „zwischen einer Soziologie antisemitischer Kommunikationen einerseits und einer Psychologie antisemitischer Subjekte andererseits“ (23). Er widmet sich ersterem, möchte sie vom Kontext zunächst lösen, um „Platz für eine aufmerksame Analyse der Semantik selbst [zu] schaffen“ (45), auch wenn er weiß, dass nur die „gesellschaftsstrukturellen Hintergründe ... einer Semantik Plausibilität verleihen“ (46). Aber er möchte eine „methodologische Perspektive“ entwickeln, „deren theoretische Prämissen den Blick offenhalten für die in den antisemitischen Kommunikationen als solche erzeugte Weltanschauung“ (95). Seine behutsame Textanalyse zur Entfaltung der Logik antisemitischer Weltanschauung erläutert er ausführlich in einem Kapitel zur „Methode der Rekonstruktion“. Holz verfährt nach einer „Sequenzanalyse“, d.h. kleine Textstellen werden nach und nach analysiert und dabei wird „von Sequenzstelle zu Sequenzstelle der mögliche Sinn“ bestimmt (118). Eine „wiederkehrend gleiche Auswahl von Sinngehalten“ werden als „Regeln“ (31) bezeichnet. Sie leiten die „sequentielle Konstitution des Sinns einer Kommunikation.“ Das „Regelwerk“, die „Regelkombination“ eines Textes bildet dessen „Fallstruktur“ (119). Damit kann er ermitteln, „was allen oder einigen untersuchten Texten gemeinsam ist“ (115). Dies entwickelt er material anhand von 18 Hypothesen, die auszuführen hier kein Platz ist; die aber, soviel sei ausdrücklich lobend erwähnt, die Logik des Antisemitismus, seine Wandlungsformen und Camouflagen im Antizionismus, seine Spezifika gegenüber Rassismus und Xenophobie, seinen konstitutiven Zusammenhang mit der Bildung identitärer Kollektive und Nationalismus sorgsam und ausführlich entfalten.

Die entstellende Großtheorie soll abwesend sein, dabei hat Holz sie im Formalismus versteckt. Ganz so offen für „allen möglichen Sinn“ ist natürlich auch er nicht; er gibt zu, selektieren und reduzieren zu müssen, schon allein aus praktischen Gründen. Darüberhinaus: Was macht eine Sequenz zu einer Sequenz, wenn nicht das Ganze, von dem keinen Vorbegriff gefasst zu haben Holz behauptet? Wieso wählt er diese und nicht jene aus? Was ist wodurch „relevant“? usf. Blinder als von theoretischen Vorannahmen gelenkte Untersuchungen sind die, die von ihren Prämissen nichts wissen (wollen). Wohin ihn der berechtigte Fokus auf die Analyse der Logik einer Weltanschauung bringt, ob die Betonung der „relativ kontextunabhängigen Dimension der symbolischen Ordnung einer Gesellschaft“ (48)“ bei ihm wie bei der Diskurstheorie zum Abschied von einer Reflexion auf Gesellschaft führt, bleibt abzuwarten. Ob er nah an einer kritischen Gesellschaftstheorie dran ist, ist fraglich. Schon in seiner Dissertation Historisierung der Gesellschaftstheorie (Centaurus, 1993) löste er angeblich Einseitigkeiten bei Marx und der Kritischen Theorie auf; dies mit Habermas, dem man en détail nachweisen kann, dass er zum einen von Marx und Adorno wenig verstanden hat, dass er zum anderen selber massive und unausgewiesene Prämissen setzt. Dass Holz noch weiter daneben greifen kann und gegen Antizionismus nicht immun ist, bewies er zusammen mit Elfriede Müller und Enzo Traverso in dem jungle world-Dossier Schuld und Erinnerung (47/2002). Dass trotz alledem, dass trotz der Begeisterung für das „enorme gesellschaftstheoretische Potential von Luhmanns Theorie“ (105) seine Studie so gut und so kritisch wurde, ist ein Wunder. Er bleibt zu beobachten.

Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg: Hamburger Edition, 2001, 615 Seiten, € 35,00