Fabian Kettner

Rudolf Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften

Vom Scheinproblem zur Tautologie

Immer sind es die Metaphysiker gewesen, die in der Destruktion von Weltbildern die bestimmte Negation zu der sie umgebenden Gesellschaft vorgetragen haben.“
BRUNO LIEBRUCKS (S. 67)

Die grundlegenden Überlegungen des modernen Positivismus, des sog. „logischen Empirismus“ des „Wiener Kreises“, sind umso mehr in Vergessenheit geraten, je mehr ihre Geisteshaltung unreflektiertes wissenschaftliches Allgemeingut wurde. Da die wissenschaftliche Erfahrung inzwischen „verwildert auf den Straßen herum[läuft]“ (LIEBRUCKS, 49), lohnt eine Beschäftigung mit den Stellen, wo sie Elternmord beging, indem sie aus der Philosophie ausbrach.

Die Aufsätze von Rudolf Carnap waren nur noch schwer zugänglich. Die Philosophische Bibliothek des Hamburger Felix Meiner-Verlags hat fünf der wichtigsten in einem ihrer berühmten grünen Bände wieder zugänglich gemacht. Sie stammen alle aus der Zeit, nachdem Carnap als Privatdozent nach Wien berufen wurde (1925) und bevor er in die USA emigrierte (1935). Scheinprobleme in der Philosophie (1928) wurde immerhin zuletzt 1966 wieder abgedruckt, Die alte und die neue Logik (1930) und Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache (1932) hingegen wurden seit ihrer Erstveröffentlichung nicht wieder aufgelegt. Von Gott und Seele. Scheinfragen in Metaphysik und Theologie (1929) ist gar ein bislang unveröffentlichtes Manuskript; bei Über den Charakter der philosophischen Probleme (1934) macht der Herausgeber nicht klar, ob dieser Aufsatz bislang nur nicht auf Deutsch oder noch gar nicht veröffentlicht wurde.

Bekanntlich haben sich im Lauf der letzten Jahrhunderte die Wissenschaften ausdifferenziert. Zunächst lösten sich Naturwissenschaften und Philosophie aus der Religion, dann die heutigen Wissenschaften aus der Philosophie. Man war zu „der sonderbaren Meinung“ gelangt, „daß die Metaphysik etwas vorgetragen habe, was außerhalb der Erfahrung des Menschen liegt“ (LIEBRUCKS, 49), und Carnap führte den Kampf gegen die unwissenschaftliche Herkunft immer noch. Gegenstand aller Aufsätze ist die „radikale Überwindung“ (81) religiöser, philosophischer, metaphysischer Weltsichten und die „gründliche Reinigung“ (79) der modernen Wissenschaften von deren Relikten. Sie sollen vergehen nicht nur weil sie wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen, sondern v.a. weil sie Verwirrung stiften, indem sie eine besondere Verwendung von Begriffen pflegen. Sei’s dass sie Begriffe verwenden, die früher einen Sinn besaßen, heute aber nicht mehr und so zu „Scheinbegriffen“ wurden (83); sei’s dass sie in ihren Begriffen Vorstellungen geben, die nicht zu einem behandelten Sachverhalt gehören.

Wo die Metaphysik nicht aufpasse, da will Carnap Abhilfe schaffen. Er unterscheidet dafür alle Aussagen in ihren sinnvollen „Kern“ vs. ihren sinnlosen „Nebenteil“ (21). Der Gehalt des Kerns sei vollkommen „hinreichend“, der des Nebenteils hingegen „entbehrlich“ (7), letztendlich „leeres Gerede“ (86). Wie der Urvater des Positivismus, Wilhelm von Ockham, möchte Carnap wegschneiden, was „überflüssig“ (62) sei. Der Kern einer Aussage sei ein „Inhalt“, der erkannt und in einem „Sachverhalt“ (31) ausgedrückt werde. Über einen solchen Inhalt könne ausgesagt werden, ob er bestehe oder nicht. Er sei dann „sachhaltig“ (36), wenn er erfahrbar sei und d.h. physisch beobachtbar, also wahrnehmbar ist – und wenn er widerspruchsfrei in einem Satz ausgedrückt werden kann. Der Nebenteil hingegen werde in einer „Gegenstandsvorstellung“ (31) begleitend mitgeteilt. Erfahrung ist für Carnap offenbar passive Rezeption der Realität, Erkenntnis deren korrekte Wiedergabe. Denn im Gegensatz zu den Sachverhaltsvorstellungen seien Gegenstandsvorstellungen das Ergebnis eines „Tuns“ (41), Resultat einer Anwendung von Intentionen auf Wirklichkeit. Die Präparierung der Wirklichkeit in Sachverhalten, um sie der positivistischen Wissenschaft zugänglich machen zu können, war Carnap so selbstverständlich und natürlich, dass sie ihm entging. Nur der Nebenteil folge einem Bedürfnis, bringe ein bestimmtes vorgefasstes „Lebensgefühl“ (105) zum Ausdruck. Die Darstellung von „Gefühlen“ (86) solle die Philosophie aber besser der Kunst überlassen (106). Denn die ist für sowas zuständig und von der strengen Wissenschaft so weit entfernt, dass keine Vermischung unterlaufen kann.

Die Verwirrung sei nicht allein Schuld der Metaphysik: die Eigenheiten der Sprache verleiteten zu „metaphysischer Begriffsdichtung“ (63). Oft sei Sprache „unzweckmäßig“, ja sogar „gefährlich“ (100), weil die „logischen Mängel der Sprache“ (93) die Bildung grammatisch richtiger, aber logisch widersinniger Sätze zulasse. Sprache wurde „als ein Gefängnis“ angesehen, aus dem man „herausspazieren möchte“ (LIEBRUCKS, 44). Der „Glaube an die therapeutische Kraft“ (KOLAKOWSKI, 241) der positivistischen Methode führte dahin, dass Carnap für die Einführung einer „logisch korrekten Sprache“ (100), einer Symbolsprache plädierte. Alle Sätze sollten in eine formale Redeweise übertragen werden. Je mehr aber die Worte „zu qualitätslosen Zeichen werden [...], desto undurchdringlicher werden sie zugleich“ (ADORNO & HORKHEIMER, 192). Worte, die nur noch bezeichnen, nichts mehr bedeuten, entziehen den Gegenstand der Erfahrung und berauben die Menschen ihrer Freiheit diesem gegenüber.
Da alle klassischen Topoi der Philosophie jenseits der Erfahrung liegen sollen und ihre Sätze demnach keine sinnvollen sein könnten, seien alle ihre Probleme „Scheinprobleme“. „Metaphysisch“ war „ein sinnloser Laut geworden“ (LIEBRUCKS, 96). Was aber bleibt von der Philosophie übrig, nachdem man sie von allen metaphysischen Flausen gereinigt hat? Nicht viel, nur noch, „Methode“ zu sein, betraut mit der Aufgabe der „Ausmerzung“ (104) unwissenschaftlicher Theorieelemente. Sie solle tun, was Carnap durchführt, eine „gründliche Reinigung der Wissenschaft“, indem sie Begriffe und Sätze durch logische Anlayse klärt (79).

Es ist das aufklärerische Moment des Positivismus, dass er Dunkelheiten und Befangenheiten des Denkens ausräumen will. Seiner eigenen Aufklärung gegenüber war er jedoch anti-aufklärerisch, weil er blind war für sein Verfahren und die Prämissen seines eigenen Denkens. Die Folgen der von ihm vertretenen reinen Wissenschaft gab Carnap zu. Die Sätze, die er noch zulässt, seien reine „Tautologie“, „gehaltleer, besagen nichts“ (76). Solche Bescheidenheit garantiert Sicherheit - das Bedürfnis, dem der Positivismus diskret folgt. In einem tautologisch-logischen Verfahren kann immerhin „niemals aus einem Sachverhalt ein anderer erschlossen werden“ (78). Nun ist Metaphysik systematisch verhindert. Damit wird aber auch der „Anspruch der Erkenntnis preisgegeben.“ Indem immer nur das jeweils Gegebene reproduziert wird, schlägt die positivistische Aufklärung „in die Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wusste“ (ADORNO & HORKHEIMER, 49). Hinter dem Schutzwall gegen die Philosophie verhungern Erfahrung und Erkenntnis der Menschen.

RUDOLF CARNAP: Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften. Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Thomas Mormann. Meiner, Hamburg 2004 (Philosophische Bibliothek Band 560) 145 + LI Seiten. € 28,00 ISBN 3-7873-1683-3

Literatur:

Theodor W. Adorno & Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Horkheimer, Gesammelte Schriften. Frankfurt/M: Fischer, 1987ff. Band 5, 11-290
Leszek Kolakowski: Die Philosophie des Positivismus. München: Piper, 1971
Bruno Liebrucks: Irrationaler Logos und rationaler Mythos. Würzburg: Königshausen + Neumann, 1982. Darin: Wissenschaftlicher Weltumgang und Entsprachlichung. S. 43-76 Drei Revolutionen der Denkart. S. 77-97