Fabian Kettner

Roger Willemsen: Deutschlandreise

Beißhemmung

Roger Willemsen zu kritisieren, ist nicht einfach. Nicht, weil es schwer wäre, etwas zu finden, was kritikwürdig ist, sondern weil man sich damit leicht falsche Freunde macht. Was die ihn einladenden Buchhändler und was die darüber berichtenden Lokalzeitungen an ihm schätzen: der „Vorzeige-Intellektuelle des deutschen Fernsehens“ (Kieler Nachrichten), der „Clown ohne Pappnase“ (Neues Deutschland) und der „Branchen-Querkopf“ (Neueste Norddt. Nachrichten) zu sein, das ist genau die Harmlosigkeit, die Willemsen auszeichnet und die zu kritisieren ist; die seine Gegner und Verächter, die Vertreter des organisierten Anti-Intellektualismus, aber bereits auf die Palme bringt, weil sie meinen, er vermiese ihnen den einfachen Spaß, den sie zu haben glauben.
Willemsen also reiste durch ganz Deutschland und er suchte. Was suchte er? Laut Pressetext des Verlags „etwas, das, weil perfekt getarnt, nur schwer zu finden ist: die Normalität.“ Also den Antisemitismus? Der kommt aber nicht vor. Laut Willemsen himself suchte er die „Kultur des Alltags“. Was er dabei fand und aufschrieb, ist ab und an amüsant, sei’s an sich, sei’s durch seine Bearbeitung. An guten Stellen findet man Chandlerismen: „Er blickt aus dem Fenster mit dem Behagen eines Mannes, der auch gerne Eiskunstläuferinnen stürzen sieht.“ (68), öfter leider verunglücken die stilistischen Mittel, als wollte er sich für Die Zeit bewerben.
Aber genau die mag ihn nicht. Denn „wohin er auch fährt, ihm widerfährt immer das gleiche“: Hotels, Bahnhöfe, Gespräche in der Bahn, Taxifahrer und, geht er des nachts durch die Straßen, Menschen, die auf dem Bordstein oder auf einer Mülltonne sitzen und erbrechen. Dass er wenig Schönes von Deutschland zu berichten weiß, das nimmt die Zeit ihm übel. Statt „offen“ zu „werden“ „verpanzert“ er sich „hinter den Wortkaskaden seiner Einfälle gegen jedes Erstaunen und jede Erschütterung. [...] Willemsen riecht nur Übles, hört selten, schmeckt gar nichts“ (Zeit). Im Osten immer wieder „ins Bodenlose, Sprachlose entrückte Desillusionierung. Bitterkeit“ (60), aber auch Baden-Baden kennt er als „übellaunige[n], vom Leben enttäuschte[n] Kurort“ (124). In Wilhelmshaven „gehen die Menschen über die Straße, als erwarteten sie nichts von ihrem Nächsten, nichts von einem Blick“ (202). Schuld daran sei „der Intellektuelle“, der seinen „Medien-Ekel“ „auf die vergeblich gesuchte Ursprünglichkeit“ projiziere (Zeit). In Bayern, Inbegriff von Heimat und Volkstümlichkeit, findet er nur eine Landschaft „die tut, als sei sie alt und ursprünglich und für die Idylle konzipiert“ (158), die für den Faschismus typische Verbindung von Vergangenheit und Moderne, ein Land „mit dem Anschein eines Agrarstaats mit vorindustriellen Idyllen“ (160). Dabei weiß er, dass es die Ursprünglichkeit gar nicht geben kann, lieber sollten sich alle Menschen „als Heimatvertriebene erkennen“, „davongejagt aus künstlichen Paradiesen“ (155), nicht aus echten, zu denen man zurückkehren könnte.
Willemsen verspürt einen angenehmen „Widerwillen, aus Gegenwart und Geschichte eines geographischen Fleckens eine Identität zu beziehen“ (176), aber was er an Deutschland auszusetzen hat, das kippt ins Reaktionäre. Willemsen, der in seinem wesentlich empfehlenswerteren Kopf oder Adler. Ermittlungen gegen Deutschland (1990 Edition Tiamat, 1994 dtv) Adornos Widmung aus der Minima Moralia kopierte, um zu zeigen, von wem er gelernt hat, geht das Feingefühl und die Wachsamkeit seines Lehrers im Geiste ab. Führen die Menschen im Osten auch „ein transzendenzloses Leben“ (60), leben sie in Magdeburg nur in „Einkaufsmeilen“ statt in einer Stadt (57), so gebe es dort wenigstens noch „eine so genannte ‚hackende Kultur’, die sich die Erde noch nicht durch die Fernbedienung unterworfen hat, von der Hand in den Mund lebt und ihre Kulturäußerungen – Bücher und Bilder – im Wesentlichen auf das Arbeitsleben auf dem Felde, eben mit den Geräten bezieht.“ „Im Westen dagegen blüht eine typische ‚sammelnde Kultur’“, in der es nur um das „Aufhäufen“ von Geld und Waren gehe (45). Dies verwechselt er mit „Luxus“, den er deswegen verfemt und sich, sehr deutsch, nach einer „Umgebung“ sehnt, „in der Produkte schlicht ihren Zweck erfüllen“ (50). Von „dieser Kultur“, in der „sich der Wert der Verkäuflichkeit [?] derartig verselbständigt“, spricht er am häufigsten, dass man „an Bilanzen“ statt „an Problemen arbeitet“ (41). Dies ist sein Modus der Kritik. Deutschland, das sei das „Vaterland der Verbraucher“ (170), wo man „nicht in das Gemeinschaftsleben“ „eingetreten“ sei, sondern vor dem Fernseher „das Wachkoma geteilt“ habe. „Eine Nation, die nicht da war, sediert, abgemeldet, in Trance zwischen Kühlschrank und Couchtisch“ (83f.). Möchte Willemsen, dass sie erwache? Willemsen ist ein gutes und schlechtes Beispiel für den „distanzierten Röntgenblick des Kulturkritikers“ (Kieler Nachrichten), der ungefähr weiß, dass die Worte „Ware“ & „Geld“ in einer Kritik moderner Gesellschaften aufzutauchen haben, der die kritische Theorie der Gesellschaft aber nicht so genau und nicht so konsequent betreiben möchte, dass er sich aus seiner behaglichen Lebensphilosophie, mit der er angeblich anecke, erheben müsste. Letzten Endes wird er mit seinen unverbrämt konservativen bis reaktionären Kritikern einer Meinung sein. Bis dahin beharkt man sich noch ein wenig gegenseitig, das belebt das Geschäft, das man verachtet und hält den Widerspruch am Laufen, von dem man sich und seine falsche Kritik nährt.

Roger Willemsen: Deutschlandreise. Frankfurt/M: Eichborn, 2002. ca. 200 Seiten, € 17,90