Fabian Kettner

„Wählt das Leben, damit ihr am Leben bleibt, ihr und eure Nachkommen.“

Der Blick auf die Überlebenden in der Debatte zwischen Bruno Bettelheim und Terrence Des Pres

Magda, die kleine Tochter von Rosa Lublin, der Hauptfigur in Cynthia Ozicks Novelle The Shawl, wurde in einem deutschen Konzentrationslager ermordet. Ein deutscher SS-Mann schleuderte sie gegen den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun. Erste Äußerungen vitaler Funktionen, die von Eltern normalerweise ersehnt und in freudiger Erinnerung behalten werden, führten sie zum Tod. Ihre ersten Schritte lenkten sie weg von ihrer Mutter; ihre ersten Laute, mit denen sie ihre Mutter zu rufen scheint, sind ihre letzten. Über 30 Jahre später bekommt Rosa, von ihrer Vergangenheit gefangen und von Ozick wenig schmeichelhaft als „Irre und Aasfresserin“ bezeichnet, einen Brief von einem jungen Wissenschaftler, der sie im Rahmen einer größeren Studie interviewen möchte. Rosa ist angewidert: „Aufregung über das Leiden von Menschen. Ihnen läuft das Wasser im Munde zusammen.“ Vor allem stört sie sich an der Kategorie, in die sie eingeteilt wird: „Schau dir auch das besondere Wort an, das sie benutzen: Überlebender. Was Neues. So lange müssen sie nicht menschliches Wesen sagen. Früher hieß es Flüchtling, aber inzwischen gibt es keine solche Kreatur mehr, keine Flüchtlinge mehr, nur noch Überlebende. Ein Name wie eine Nummer – abgezogen von den Normalen. […] Sie nennen dich nicht mehr Frau. Überlebender.“

Genau um diese Kategorie geht es in dem gleichnamigen Buch von Terrence Des Pres, eines ehemaligen Professors für Englische Literatur. Als The Survivor im Jahr 1976 veröffentlicht wurde, gab es einen kleinen Aufruhr, denn es folgte eine – teilweise polemisch geführte – Debatte zwischen dem Autor und Bruno Bettelheim (damals Professor für Psychologie an der Universität von Chicago). Die Auseinandersetzung blieb innerakademisch und auf den angloamerikanischen Raum beschränkt. Nun, da Des Pres‘ Buch seit 2008 erstmalig auf Deutsch vorliegt, ist nicht zu erwarten, dass eine ähnliche Debatte sich wiederholen wird. Aber eine nähere Betrachtung dieser Auseinandersetzung lohnt, denn erstens wurden Bettelheims Reflexionen zur Sozialpsychologie von KZ-Insassen, über Individuum und Totalitarismus, über den Zusammenhang von modernem Staat und Nationalsozialismus recht einflussreich. Seine beiden maßgeblichen Bücher erzielten sowohl in den USA als auch in Deutschland hohe Auflagen in großen Verlagen. Verschiedene Aspekte seiner Gedanken findet man auch bei anderen Autoren. Zweitens kann man zeigen, dass auch diese beiden gegensätzlichen Perspektiven auf den Überlebenden in einigen Aspekten konvergieren, worauf Lawrence L. Langer schon vor längerem in extenso und Giorgio Agamben vor kurzem hinwies.
Es soll hier darum gehen, wie Bettelheim und Des Pres Verfolgte, Häftlinge und Überlebende sehen. Wie charakterisieren sie sie? Was macht sie aus? Wie konnten sie überleben? Und um welchen Preis? Es soll aber auch darum gehen, wie Bettelheim und Des Pres ihr Bild vom Überlebenden zusammensetzen. Wie konstruieren sie es? Welches Material verwenden sie dafür? Damit geht es um die je spezifische Narrativität ihres Bildes vom Überlebenden, und damit wird der Rahmen, den sie vorgeben, transzendiert.

(unter dem Titel "Empathie und Erfahrung. Der Blick auf die Überlebenden in der Debatte zwischen Bruno Bettelheim und Terrence Des Pres" erschienen in: Falko Schmieder (Hg.): Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011)