Hendrik Wallat

Teilschuld - Die marxistische Arbeiterbewegung und der Aufstieg des Nationalsozialismus im Urteil radikaler Linker

In dem im Archiv schmorenden Nachlass des jüdisch-russischen Sozialrevolutionärs Isaak Steinberg befindet sich ein sechsseitiges Typoskript mit dem Titel Haben Sozialisten am Faschismus schuld?. Steinberg legt los mit einem kurzen Lobgesang auf die deutsche marxistische Arbeiterbewegung, die trotz seiner marxismuskritischen Grundhaltung ehrlich gemeint sein dürfte, ist doch Polemik seinen Texten durch die Bank fremd. Welchen weltweiten Ruf sie besessen haben muss, auch welche Hoffnungen auf sie in anderen Ländern gesetzt wurden, das alles spricht deutlich aus Steinbergs Ausführungen. Ob rhetorischer Kniff oder nicht – der Fall der deutschen Arbeiterbewegung ist am Ende allerdings umso tiefer. Sozialdemokraten wie Kommunisten hätten, so Steinbergs Urteil, den aufhaltsamen Aufstieg der Nationalsozialisten wenigstens begünstigt, wenn nicht befördert: Ihre Parteiapparate blockierten die Eigeninitiative der proletarischen Massen. Ihre erbitterte wie gruppenegoistische Feindschaft habe diejenige linke Arbeitereinheitsfront verbaut, die allein den Nationalsozialismus hätte aufhalten können. Und die nationalistische Ideologie habe man nicht nur nicht bekämpft, sondern sogar offen befördert.
Dass Steinberg mit dieser Einschätzung nicht allein stand, belegt ein Blick auf führende Köpfe der radikalen Linken jener Jahre. Am Beispiel der Rätekommunisten Otto Rühle und Anton Pannekoek auf der einen und dem Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker auf der anderen Seite lässt sich zeigen, dass, quer zu den gängigen bürgerlichen, sozialdemokratischen und parteikommunistischen Varianten, eine ganz andere Einschätzung des Verhältnisses von Arbeiterbewegung und Nationalsozialismus vorliegt, die zwar kaum bekannt, dennoch aber bedenkenswert ist.