Ingo Elbe

IV. Marx vs. Engels? Werttheorie und Sozialismuskonzeption

Generationen von Lesern, Marxisten wie Antimarxisten, haben das Marxsche Werk durch die von Friedrich Engels bereitgestellten Deutungsmuster hindurch wahrgenommen. Der Marxismus der 2. und 3. Internationale hält für die Charakterisierung des ‚wissenschaftlichen Sozialismus’ konsequenterweise die Formel „Marx = Engels“ bereit. Allenfalls eine gewisse theoretische Arbeitsteilung habe zwischen beiden bestanden, ansonsten gelten ihre Schriften als einem einheitlichen Paradigma zugehörig: dem einer geschlossenen ‚proletarischen Weltanschauung’.

Seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts stellten Georg Lukacs und in seinem Gefolge der ‚westliche Marxismus’ den Mythos der Identität von Marxscher und Engelsscher Theorie in Frage. Diese Kritik – zugleich eine am Determinismus und Objektivismus der Orthodoxie – bleibt aber auf allgemeine Probleme der Gesellschafts- und Geschichtsauffassung begrenzt und folgt hinsichtlich der inhaltlichen Annahmen der Ökonomiekritik weiterhin den Engelsschen Vorgaben einer „logisch-historischen“ Darstellungsweise.
Diese ‚verschwiegene Orthodoxie’ in Fragen der Kritik der politischen Ökonomie wird erst im Rahmen einer neuen Marx-Lektüre seit Ende der 1960er Jahre aufgebrochen. Deren Protagonisten entdecken nun, dass Marx’ Vorstellungen über Gegenstand und Methode seines ‚Kapitals’ sich grundlegend von denen der durch Engels geprägten marxistischen Orthodoxie unterscheiden. Plötzlich tut sich ein Gegensatz zwischen politischer Ökonomie und Kritik derselben auf, der sich mit dem von Engels/ Marxismus einerseits und Marx andererseits weitgehend deckt.
Der Vortrag will diese gegensätzlichen Einschätzungen der Werttheorie kurz vorstellen und auch nach deren Folgen für eine Konzeption von sozialistischer Vergesellschaftung fragen.

Ingo Elbe hat Philosophie in Bochum studiert und promoviert zur Zeit über die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik.