Dietmar Richter
Meinhard Creydt, Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Gestaltungspessimismus und Utopismus im gesellschaftstheoretischen Denken
Meinhard Creydt, Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit
Gesellschaftstheoretisches Denken in den siebziger Jahren ging in der progressiven Intelligenz der alten Bundesrepublik einher mit der starken Neigung, alles aus dem Kapitalismus ‘abzuleiten’. Später dann setzte sich etwa mit Habermas und Luhmann ein Denken durch, das ‘die moderne Gesellschaft’ ins Zentrum stellte. Der Kapitalismus kam nun, wenn überhaupt, nur mehr als deren Unterabteilung vor. Creydts Buch hebt die Einseitigkeit beider Positionen und ihre einfache Entgegensetzung auf, ohne in laue Kompromisse zu verfallen. Man braucht nach Lektüre des Buches nicht länger wegen der in der Marxschen Theorie enthaltenen Naivitäten in puncto Leichtgängigkeit der befreiten Gesellschaft (nach Subtraktion des Kapitalismus sei ‘eigentlich’ alles ganz einfach zu regeln) seine Kapitalismuskritik abzulehnen. Und man muß nicht wegen der kapitalismusbezogenen Naivitäten der Modernetheorie ihre Stärken übergehen. Der Autor erarbeitet ein umfassenderes Terrain, in dem eine an Marx anknüpfende Kapitalismuskritik und die verschiedenen Spielarten der soziologischen Theorie moderner Gesellschaft sich in ein produktives Verhältnis zueinander setzen lassen.
Der integrierende Fokus dieses Buches (1) liegt auf den Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung. Sie bildet für Creydt den Gegenbegriff gegenüber der inflationär bekundeten politischen Ambition des ‘Gestaltens’. Der Verfasser liest sowohl die Soziologie wie auch die Kritik der politischen Ökonomie als traurige Wissenschaften von den Grenzen der Gesellschaftsgestaltung. Thema ist so neben dem Markt- und Staatsversagen auch ein Politikversagen, insofern Politik an den den modernen und kapitalistischen Gesellschaften immanenten Gestaltungsgrenzen aufläuft. Beide Paradigmen enthalten (2) jeweils eine eigene Substanz, die der andere Zugang nicht zu denken vermag. Creydt sieht als ureigene Themen soziologischer Theorien moderner Gesellschaften die Komplexität moderner Gesellschaften, die Auswirkungen der Arbeitsteilung, die gesellschaftlichen Synthesisformen (Hierarchie, Markt, funktionale Differenzierung und Organisation) sowie die Effizienz und formale Rationalität als Erfolgskriterien. Mit der Marxschen Kapitalismuskritik lassen sich eigene Abstände, Trennungen, Eigendynamiken und selbstreproduktive Kreisläufe bzw. Steigerungsspiralen des ‘abstrakten Reichtums’ denken. An den Aufweis des rationalen Kerns beider Zugänge schließt (3) die Kritik an, wie beide Denkrichtungen sozusagen ihren legitimen Platz überschreiten, in fremden Gefilden nicht nur wildern, diese sich vielmehr imperial anzueignen trachten und damit schlußendlich selbst auf Abwege geraten und ihre eigene Legitimität verspielen. An den soziologischen Modernetheorien zeigt der Verfasser, wie in ihnen Kapitalismus zur selbstverständlichen Voraussetzung gerät. Der Schein der Neutralität und Unumgänglichkeit von Ware, Markt, Geld und der kapitalistischen Organisation und Technik im Arbeitsprozeß wird zugleich erklärt und de(kon)struiert.
Nach Teil I über die moderne Gesellschaft und Teil II zum Kapitalismus schließt ein dritter Teil zur „entfalteten Subjektivität“ das Buch ab. Wieder läßt sich die Argumentation lesen als Verarbeitung zentraler Erfahrungen mit prominenten progressiven Konzeptionen. Subjektivität wird weder verstanden als bloße Wiederspiegelung objektiver Verhältnisse noch als das sozusagen apriorisch gesetzte (‘unkaputtbare’) ‘Leben’, das aller Objektivität trotzt und ihre Überwindung verheißt. Auch Varianten, sich bspw. habermasianisch eine Einhegung objektiver Systeme durch die ‘Lebenswelt’ zu erwarten, werden nachhaltig daran erinnert, wie vermeintlich emanzipatorische Gehalte der Subjektivität gerade dadurch noch dem verhaftet bleiben, dem sie sich mit ihrer eigenen Kreativität enthoben vorkommen, indem sie diese Kreativität entwickeln. Subjektivität nimmt Creydt als eigene Lebenssphäre ernst, die in Absetzung von der erscheinenden Gestalt der modernen und kapitalistischen Gesellschaft unter deren Voraussetzung eigenes Leben nolens volens zu gründen hat. Die Subjektivität kommt damit in Probleme mit sich selbst, weil sie etwas zur Sphäre eigener Verwirklichung kreativ umzuinterpretieren und -arrangieren genötigt ist, das anderen Imperativen gehorcht. Die Subjektivität hat nun noch dies Widerstrebende schon aus eigenen Erhaltungs- und Steigerungskriterien neuerlich sich zu assimilieren und gerät damit in eigene Folgezwänge. Der Subjektivitäts-Teil gliedert sich nach den Stufen der Entfaltung und Verselbständigung von Subjektivität.
Creydts Buch gehört weder der Sparte der Politikberatungsliteratur an noch der Klage der schönen Seele über das unentrinnbare Verhängnis. Der Autor analysiert die Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung in einer Konsequenz, die die auf diese Gestaltungsschwierigkeiten bezogene ‘Gesellschaftliche Müdigkeit’ in ihrem Beharrungsvermögen eindrücklich vergegenwärtigt. Sowohl die realpolitische Verwaltung des kleineren Übels als auch die bewegungsaktivistische Mobilisierung des guten Willens werden an eine Blockade erinnert, die imaginär zu überspielen vor allem zu einer leeren Geschäftigkeit beiträgt. Zugleich zeigt Creydt mit den Figuren des Doppelcharakters und des Ereignis die Grenzen und Widersprüche der von ihm dargestellten gesellschaftlichen Formen und Strukturen. In den bestehenden Verhältnissen entstehen menschliche Kräfte, Fähigkeiten, Verbindungen sowie materiale technische und organisatorische Ressourcen, die bei aller konstitutiven Eingebundenheit in die herrschenden gesellschaftlichen Formen nicht nur mit ihnen nicht identisch sind, sondern auch eine andere Zivilisation und Kultur ermöglichen. Eine nachkapitalistische Ökonomie erlaube einen anderen Umgang mit den Sachzwängen der modernen Gesellschaft. Deren Steigerung über das für moderne Gesellschaften notwendige Maß sei ebenso zu überwinden wie die für den Kapitalismus aufgewiesene Vergeudung von Ressourcen. Ihre Freisetzung erlaube größere gesellschaftliche Freiheitsgrade im Umgang mit modernen Sachzwängen und damit zwar nicht ihre Auflösung, wohl aber ihre substanzielle Veränderung.
Natürlich ist das Buch bisweilen seinem Gegenstand entsprechend ‘harte Kost’. Der Leser wird aber durch Einleitungen und Resümees jedes Teils didaktisch hilfreich an die Hand genommen, manch Theoriewitz lockert die Lektüre auf und man kann (z. B. in Creydts Luhmannkritik) interessante Auseinandersetzungen ‘ernten’, die die infragestehenden Theorien nicht innerakademisch-selbstreferentiell ventilieren, sondern stets auf ihren realen Problemgehalt durchsichtig machen. Der Moderne-Teil stellt eine auf das Thema ‘Schwierigkeiten der Gesellschaftstheorie’ fokussierte problemorientierte Synopse moderner Soziologie dar und der Kapitalismus-Teil bietet eine frische Pointierung der Marxschen Kapitalismustheorie, die sich von der in diesem Metier oft vorherrschenden drögen Nacherzählungsmentalität und Scholastik (‘MEW-Ehrenwache’) wohltuend abhebt.
Das Buch ist eines der raren Exemplare gesellschaftstheoretischer Grundlagentheorie, die der irreduziblen Vielfalt sozialer Logiken in modernen Gesellschaften gewachsen sind. D.h. weder dem Pluralismus eines ebenso indifferenten wie bei allen Konflikten schiedlich-friedlichen Nebeneinanders von Bereichen (‘funktionale Differenzierung’) zu verfallen noch einer letztlich dann doch wieder künstlichen Einheitsstiftung. Letztere weiß die Vielfalt nicht von innen her zu sich aufzuschließen. Der vorliegende Band kritisiert überzeugend alle ‘Projekte’, die die gesellschaftliche Müdigkeit nur vergessen machen wollen, ihr sich aber nicht wirklich zu stellen vermögen. Diese Enttäuschung des Utopismus führt den Verfasser zugleich aber nicht zu einer wohlfeilen Affirmation des Gestaltungspessimismus, da er ihn mit der Vergegenwärtigung der Notwendigkeit und Möglichkeit von Gesellschaftsgestaltung zu kritisieren weiß, ohne sich über deren Leichtigkeit und Wahrscheinlichkeit etwas vorzumachen. Dieser diffizilen Konstellation eingedenk bewahrheitet der Text die Maxime: Nur wer gesellschaftlich etwas will, sieht soziologisch etwas.
Meinhard Creydt, Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Gestaltungspessimismus und Utopismus im gesellschaftstheoretischen Denken, Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2000, 423 S.
(erstveröffentlicht in: Archiv für die Geschichte des Widerstands und der Arbeit, No. 17 , 2003, Seite 711-713, Germinal-Verlag)