Ingo Elbe

III. Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen. Lesarten der Marxschen Theorie

Traditioneller Marxismus als theoretische Regression
Lange Zeit hindurch konnten die komplementären Diskurse des partei-, später staatsoffiziellen Marxismus sowie des ‚westlichen’ Antikommunismus die nahezu uneingeschränkte Definitionsmacht über das beanspruchen, was gemeinhin als ‚Marxscher’ oder ‚wissenschaftlicher Sozialismus’ galt. Beide, parteioffiziöse Vertreter wie bürgerliche Kritiker kleisterten – vor allem vermittelt über Interpretationen Friedrich Engels’ – gerade aus den der klassischen politischen Ökonomie und bürgerlichen Geschichtsphilosophie verhafteten Restbeständen in Marx’ Schriften, ein abstruses System ‚eherner Notwendigkeiten’ des geschichtlichen Fortschritts sowie einer ‚historischen Mission’ des Proletariats zusammen. Unterfüttert wurde das Ganze durch eine zur alternativen Volkswirtschaftslehre pervertierte Deutung der Kritik der politischen Ökonomie, die grundsätzlich die Gebrechen des Feldes der ökonomischen Klassik teilte: Anthropologismus, Empirismus, Ahistorismus und methodischer Individualismus.

Lernprozesse in Form dissidenter Marxismen
Aufgabe einer kritischen Lektüre muss es unzweifelhaft sein, diesen Rezeptionsschutt abzutragen, um gerade die Elemente einer wissenschaftlichen Revolution im Marxschen Werk, die unter der Ägide des Traditionsmarxismus zum Status einer unerschlossenen ‚Geheimlehre’ verdammt waren, zu rekonstruieren und die systematischen Intentionen der Marxschen Bemühungen freizulegen. Genau dies beanspruchen auch zwei dissidente theoretische Formationen, der sogenannte ‚westliche’ Marxismus seit den 20’er und die neue Marx-Lektüre seit den 70’er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Für diese steht – freilich auf durchaus unterschiedlichem Reflexionsniveau – der kategoriale wie praktische Bruch mit den Formen kapitalistischer Vergesellschaftung (Ware, Geld, Kapital, Recht, Staat usw.) im Vordergrund. Nicht ein paradoxer Automatismus der Befreiung, der sich zudem als bloß „adjektivischer Sozialismus“ (R. Kurz) artikuliert (‚sozialistische Warenproduktion’, ‚proletarischer Staat’ usw.), vielmehr die Befreiung vom Automatismus einer irrationalen Vergesellschaftungsweise (dem „automatischen Subjekt“, wie Marx das Kapital nennt), wird als revolutionäre Intention einer an Marx anknüpfenden Theoriebildung ausgemacht. Marx’ Analysen werden dabei verstanden als einzige konsequente Dechiffrierung und Kritik der Strukturen kapitalistischer Sozialformationen sowie als Reflexion auf die objektiv – realen Möglichkeiten umfassender gesellschaftlicher Emanzipation, ohne jegliche geschichtsmetaphysische Garantie ihrer Verwirklichung.

Allerdings zeigt gerade die neue Marx-Lektüre, dass das Unternehmen einer Rekonstruktion der Marxschen Theorie keineswegs ein unzweideutiges, in sich geschlossenes und kohärent argumentierendes Werk zu Tage fördert. Ihr zufolge gilt es, sich der Ambivalenzen und Widersprüche zwischen „klassischer Tradition und wissenschaftlicher Revolution“ (M. Heinrich) im Marxschen Werk selbst zu stellen.
Der Vortrag soll einen groben Überblick über die theoretischen Kernvorstellungen der drei Marxismen (traditioneller und westlicher Marxismus sowie neue Marx-Lektüre) vermitteln und damit auch einen Beitrag zu einer differenzierten Herangehensweise an die Texte von Marx selbst leisten.

Ingo Elbe hat Philosophie in Bochum studiert und promoviert zur Zeit über die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik.