Hans-Ernst Schiller

Was ist Kritische Theorie?

Die Antwort lässt sich nur im Nachvollzug ihrer Geschichte geben, die in die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts eingelassen ist. Die Entwicklung kritischer Theorie wird angetrieben vom Grundwiderspruch einer negativen Revolutionstheorie, welche am Ziel einer klassenlosen Gesellschaft festhält und dabei immer tiefer in die Mechanismen eindringt, die seine Verwirklichung unmöglich machen. Ihr Gegenstand ist Gesellschaft als ein widersprüchliches Ganzes, in dem eine Abwesenheit, die des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts, im Zentrum steht. Heute sind die kulturellen und politischen Voraussetzungen einer Theorieproduktion, wie sie speziell von Horkheimer und Adorno betrieben wurde, hinfällig geworden. Geblieben sind ihr Gegenstand, das progredierende Kapitalverhältnis, und eine Reihe fragmentierter Motive, unter denen dem Referenten die folgenden besonders wichtig sind: der Versuch, denkende Erfahrung gegen den Schematismus und Pragmatismus des Wissenschaftsbetriebs geltend zu machen; eine Ethik der Selbstreflexion, die das eigene Funktionieren und die es ermöglichenden Mechanismen der Selbstbehauptung auf Distanz bringen kann; die Aufgabe, das Zusammenspiel von direkter Herrschaft und Warentausch zu erkennen; schließlich das Festhalten an der Verbindung von Philosophie und Ökonomiekritik, wobei die erstere in der kategorialen Reflexion der ökonomischen Theorie und in dem Versuch besteht, die Solidarität der Unterdrückten mit der Sympathie für die leidende Kreatur zu verbinden.

Der Vortragstext ist hier als pdf verfügbar

Hans-Ernst Schiller, geboren 1952, studierte Philosophie, Soziologie und Geschichte in Erlangen und Frankfurt/M. Promotion 1981 mit einer Arbeit über Ernst Bloch (Metaphysik und Gesellschaftskritik), Habilitation 1997 in Kassel mit der Untersuchung Die Sprache der realen Freiheit zu Wilhelm von Humboldt. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Philosophie und Gesellschaftstheorie, u.a. zu Kant, zur Kritischen Theorie und zu Ernst Bloch; besonders hervorzuheben ist Das Individuum im Widerspruch. Zur Theoriegeschichte des modernen Individualismus (2006). Seit 1996 Professor für Sozialphilosophie und Ethik an der Fachhochschule Düsseldorf.